Wahn, Tod und Teufel:

Das Böse in der Spätantike und in der Spätmoderne

von Thanos Lipowatz

Abstract:

Das Thema Destruktivität, Todestrieb ist ideengeschichtlich mit der Erkenntnislehre der Gnosis verbunden, in deren Dualismus – in den antiken wie modernen Varianten – die Spannung zwischen den Gegenpolen von Gut und Böse das Thema ist.

 

1. Gnosis und Existentialismus. Stichworte

In der Spätantike werden seit dem ersten Jahrhundert Veränderungen im Gefühlsinhalt des Begriffs „Kosmos“ spürbar, sie äußern sich als gnostische Entwertung des bis dahin göttlichen Teils der sichtbaren Welt, der Himmelssphären als des Garanten der Harmonie im Weltall. Der Mensch wurde sich seiner Einsamkeit unter einem Himmel bewusst, der ohne göttliche Wesen, die Sterne, dämonisch geworden war. Wegen der adeligen Herkunft seiner Seele steht der Mensch gleichwohl über der Welt, auch wenn er nicht weiß, dass er ihr als Geist nicht angehört, sondern ein Gefangener des „Systems“ ist, in das er als Anderer, als Fremder hineingeworfen ist.

Seine Andersheit in der Welt zwingt den Menschen dazu, seine Einsamkeit zu entdecken, er versinkt in der Angst. Die Angst ist die Antwort der Seele auf den Zustand des „In-der-Welt-Seins“. Gleichzeitig ist die Angst selbst ein Teil dieser Entdeckung, denn sie kennzeichnet die Erweckung des inneren Selbst aus dem Schlaf oder Rausch der Welt, dem Kosmos. Indessen umfasst die Herrschaft der Welt nicht nur den physischen, äußeren Zwang, sondern bezieht auch die innere Entfremdung des Selbst mit ein. Das Subjekt entdeckt, dass es ungewollt der Vollstrecker der kosmischen Gesetze ist. Allein die mystische Erkenntnis (Gnosis) der Dinge kann das Subjekt befreien. Kein Glaube oder Handeln gibt ihm die Handhabe dazu.1

Das Ziel der Befreiung ist jedoch nicht auf die Eingliederung in das Ganze der Welt gerichtet, wie es die stoische Weisheit verlangte. Die Gnostiker waren vielmehr der Überzeugung, dass die Entfremdung bis an ihre Grenzen zu treiben sei und nur auf diese Weise der Zusammenbruch und die Erlösung der inneren Welt zu erreichen seien. Die Welt, die zu einem Herrschaftssystem reduziert worden ist, müsse überwunden werden, was allein mit den Machtmitteln des „Erkennens“ gelinge.

Erlösung indessen erfolgt durch die Herrschaft des kosmischen „Erlösers“, der radikal fremd in dieser Welt, von außen in das geschlossene System der Welt eindringt. Andererseits ergibt sich Erlösung durch die Macht der mystischen Erkenntnis, mit deren Hilfe der Mensch das magische Instrument, den Zwang, den die Sterne auf das Schicksal der Menschen ausüben, seinerseits bezwingt. Die Konfrontation, in der sich die Macht des Gnostikers der Sternenmacht entgegenstellt – durch seine Verstellung, das Böse zu überlisten – blieb die einzige Beziehung der Menschen zum Ganzen der Natur.2

In dieser katastrophischen Entwertung des Weltalls – die in keiner Weise der neuzeitlichen Wissenschaft ähnlich ist – ist die Welt durch und durch dämonisiert. Die in der Antike fundamentale Lehre vom Primat des Ganzen über die Teile hat ihre Bedeutung eingebüßt, wofür es soziale und politische Gründe gibt: Das politische Verschwinden der Autonomie der Städte und der Demokratie zählen ebenso dazu wie der soziale Abstieg der (höheren) freien, gebildeten Schichten, die ihr Träger waren. Unbesehen davon geht der Stoizismus von der „Kosmopolis“ und der „Ökumene“, d.h. von der Gesamtheit der bewohnten Erde aus. In der Stoa ist das Ganze jedoch eine künstliche abstrakte Idee. Das zeigt sich in den in der Stoa verwendeten Theatermetaphern von Position und Rolle, welche die Vorsehung des Schicksals (Heimarmene) jedem zuteilt. In der hierarchischen, geschlossenen Gesellschaft der Spätantike wie im Kosmos spielen alle eine vorherbestimmte Rolle, das Ich des Individuums ist unbedeutend. Wobei die Rolle des Individuums an die Stelle eines wirklichen Ziels tritt. Alle spielen, „als ob“ es ihre Entscheidung wäre. Die Agierenden sind zugleich Agierte und Zuschauer ihrer selbst. Eine tiefe Resignation und Passivität macht sich damit breit. Beides wird konterkariert durch eine bei den Intellektuellen der Zeit auftauchende Präferenz für heroische Leidenschaften, mit der die Würde der „Person“ gewahrt bleiben soll.3

Die neuen, individualisierten und entwurzelten Massen der absteigenden Schichten und der Intellektuellengruppen, die ihren sozialen und politischen Status im imperialen Rom verloren hatten, sowie bestimmte neureiche Schichten reagierten jedoch anders. Sie fühlten, dass sie als Individuen ein unbedeutender Teil geworden waren und das Ganze jetzt fremd gegenüber seinen Teilen stand. Das Ziel der Gnostiker war es nicht mehr, den Teil darzustellen, den das Ganze ihnen auferlegte, sondern nun ihr „eigentliches“, „authentisches“ Selbst zu verkörpern, indem sie unpolitisch wurden. In der Sicht der Gnostiker wurde das Gesetz des Imperiums, welches gleichzeitig das Gesetz des kosmischen Ganzen repräsentierte, jetzt mit der Gewalt identisch. Das Gleiche galt für die gnadenlose, kosmische Moira, das Schicksal, das den Makrokosmos des Weltalls regiert. Die „Heimarmene“ wurde entwertet, sie wurde zu etwas Negativem.4

Die Unterminierung der Idee des Gesetzes hatte indessen negative ethische Folgen. Sie machen die nihilistische Komponente des gnostischen Akosmismus und Antinomismus aus. (Bewusste Weltlosigkeit, bewusste Gesetzlosigkeit). Im psychoanalytischen Sinne könnte man sie als Verleugnung jeglicher Bindung an das ethische und politische Gesetz bezeichnen oder als eine Flucht aus der Welt, eine bewusst, provozierende Übertretung (Transgression) jeglichen Gesetzes und jeglicher Ethik mit dem Ziel der Abtötung von Körper und Begehren. In der antiken Gnosis, die mit der mittelalterlichen und modernen Gnosis nicht identisch ist, begann auf diese Weise ab dem ersten Jahrhundert die Auflösung und Unterminierung der tausendjährigen Erbschaft der antiken, griechisch-römischen Kultur.

Der Verlust von Werten, welche die Individuen ethisch verpflichten, war unumkehrbar geworden. Daran änderte der dem Manichäismus zugrunde liegende extreme Dualismus, der das genaue Gegenteil des Verzichts auf Transzendenz war, nichts. Denn diese Transzendenz hatte anders als in der Welt der Ideen Platons, anders auch als die Transzendenz des „Herrn der Welt“ im Judentum jetzt kein positives Verhältnis zur empirischen Welt mehr: Sie war ihre Negation und Verwerfung. Der gnostische gute Gott ist, anders als der böse Schöpfergott der Welt, als der gänzlich andere, fremde, „unbekannte“ Gott. Er steht näher zum Nichts als zum Einen. Es gibt hier eine Transzendenz ohne normativen Bezug zur Welt, eine Transzendenz, die ohnmächtig und kraftlos ist. In der Neuzeit ist der nicht geoffenbarte, „verborgene Gott“ (Deus absconditus) dann ein nihilistisches Konzept geworden: kein ethisches Gesetz folgt aus ihm.5

Die antike Gnosis war subjektivistisch und antinomistisch: Die Dinge sind indifferent, nichts ist von Natur aus gut oder böse, nur die menschlichen Meinungen (doxa) unterscheiden sie. Der „geistige Mensch“, der die Wurzel „des Bösen“ – d.h. die Sinne und das (phallische) Machtbegehren – in sich getötet hat, hat die Macht, „alles“ zu gebrauchen. Er ist ein „Übermensch“ geworden. Der auferweckte, göttliche Funke in ihm, der mystische „Geist“, verselbstständigt sich von jeglichem natürlichen oder menschlichem Gesetz; der Mensch ist nun auto-nom.

Dennoch bleibt der Ursprung der Meinungen, die Welt und ihr Schöpfer, dem sich die Seele zunächst unterwirft.

Im 3. Jahrhundert erkannte dann Plotin, dass das Fehlen einer ethischen Lehre mit der vollen Verachtung der Welt und der Übertretung jeglichen Gesetzes identisch ist. Im Rahmen eines kosmischen Determinismus identifizierten die Gnostiker das ethische Gesetz mit dem Naturgesetz. Mit der Folge, dass der jüdische Gott, der als Schöpfer und Gesetzgeber auftritt, nun der böse Gott wird. An dieser Stelle hat der Antijudaismus als eine gnostischpaganistische Reaktion auf den Monotheismus seine Wurzel, und zwar innerhalb wie außerhalb des Christentums.6

Die antike Gnosis stand in Bezug zu einer mythischen, jedoch rationalisierten und apokalyptischen Geschichtsspekulation, in deren Rahmen die mystische Erkenntnis über die Ersten und die Letzten Dinge, ein „kritisches Ereignis“ bildeten. Es beantwortet existentielle Fragen folgender Art: Wo kommen wir her, wohin wurden wir geworfen, wohin eilen wir? Daneben gibt es einen dynamischen Begriff der Bewegung, die hier als eine rein subjektive, „therapeutische“, innere Bewegung zutage tritt, keine äußere, gesellschaftliche Bewegung ist, sondern eine passive Haltung impliziert. D.h. es gibt kein Verweilen im Sein, keine Atempause, nur noch das Werden schlechthin. Für die Gegenwart ist kein Platz mehr, sie ist selbst nur noch ein Moment der Erkenntnis.7

2. Gnosis und Moderne. Existentieller Nihilismus

Der innerweltliche Nihilismus der Moderne hat mit der antiken Gnosis wenige Gemeinsamkeiten. Denn die antike Gnosis „kennt“ noch unterschiedliche Zeiten der Vergangenheit und Zukunft, ähnlich wie sie die Ewigkeit als ihren Ursprung und ihr Ziel betrachtet.8

Der Unterschied zwischen dem gnostischen und dem existentialistischen Nihilismus besteht im Wesentlichen darin, dass der existentialistische Nihilismus radikaler ist und tiefer geht, insofern er auf die absolute Leere, den Abgrund und die Indifferenz der Natur ausgerichtet ist. Im Gegensatz dazu wendet sich die antike Gnosis gegen die unmenschliche Natur und es gibt für sie das Dämonische, das noch anthropomorph ist. In der antiken Gnosis gibt es außerdem ein Begehren, das gegen die physikalische Wissenschaft und gegen die Herrschaft der Kontingenz gerichtet ist.

Der moderne Nihilismus der positiven Wissenschaft – der, nebenbei gesagt, den Buddhismus und den Neopaganismus als ideologische Kompensation der „kalten“ Wissenschaft begünstigt – ist sodann in Heideggers Begriff von der „Geworfenheit in der Welt“ anzutreffen, wo er als ein Rest der dualistischen Metaphysik verstanden werden kann, denn es gibt keinen Wurf ohne einen Werfer.9

Im modernen Existentialismus des 19. und 20./21. Jahrhunderts (der nicht mit dem Denken der Existenz zu verwechseln ist) wurde dann die traditionelle christliche Metaphysik und die Idee eines ethischen Gesetzes aufgelöst und verleugnet. Insbesondere F. Nietzsches Dekret vom „Tod Gottes“ hat hier zur Entwertung der höchsten Werte beigetragen.

Spätestens mit dem Auftauchen des Rationalismus (nicht des Atheismus!) ist diese Tendenz aber im Rückzug begriffen. Die Folge ist, es gibt keine „Wunder“ mehr, die als Zeichen Gottes firmieren. Dem Menschen, der nunmehr verlassen, nur auf sich selbst angewiesen ist, bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst anzunehmen. Er ist nichts anderes mehr als sein eigener Entwurf: „alles ist erlaubt“. Es handelt sich jedoch um eine verzweifelte Freiheit, um ein Projekt ohne Richtung und Sinn, das eine selbstdestruktive Angst erzeugt.10

Der Existenzialist spricht auf paradoxe Weise: „Der Mensch ist ein Wurf der Natur“. Er wird von einer nicht mehr teleologischen, sondern kontingent verfahrenden Natur erzeugt und zwar als ein teleologisches Wesen, das sich um sich selbst sorgt. Parallel dazu behauptet der Reduktionismus der physikalischen Wissenschaft seine Notwendigkeit und führt theoretisch wie ethisch-politisch „alles“ auf die indifferente, unpersönliche, anorganische Natur zurück.

An dieser Stelle lässt sich mit Max Weber darauf hinweisen, dass die Human- und Geisteswissenschaften, die die Produktion von Sinn und von Werten zum Gegenstand haben, nicht auf physikalisch-chemische Weise „erklärt“ werden können, sondern mittels Sprache „verstanden“ und „interpretiert“ werden. (Eine Position, die auch vom Heidegger unterstrichen wird, bei dem es heißt, dass das, was uns „angeht“, nicht nur das ist, „dass“ wir existieren, sondern auch „wie“ wir existieren. Es muss ein Interesse, einen Sinn in der Natur, im Menschen, im Ganzen der Welt geben. Heidegger bleibt hier wie anderenorts philosophisch-pantheistisch).11

Vereinfacht gesagt, lässt sich die Moderne durch eine fundamental utopische Denkweise kennzeichnen. Stichworte dafür sind: das Phantasma der Selbsterzeugung und der Unschuld des Menschen, die Idee der moralischen „Vervollkommnung“ und der „Herstellbarkeit“ von Welt und Menschen. (Technologie als „Wille zur Macht“ (Nietzsche) oder als „Wille zum Willen“ (Schopenhauer)). Überwiegend handelt es sich um Ideologien der kontinuierlichen, immanenten Vervollkommnung, d. h. um Ideologien der Evolution, des Fortschritts und der Selbsterlösung des Menschen. Weiters um solche der Nutzenmaxierung (Bentham) mittels Technologie. Alle miteinander stehen sie im Namen des Menschenwohls.

Mit der Wendung gegen die klassischen Ideale der Moderne in der Spätmoderne, d. h. gegen Rationalität, Freiheit, Menschenwürde sowie gegen die Idee der Gerechtigkeit steht die Suche nach der Allmacht (Design des Menschen durch Handhabung der Gene) dann im Zeichen der Biotechnologien und im Dienste der Biopolitik. Hier lässt sich von einer auf paradoxe Weise selbstzerstörerischen, phantasmatischen Mischung aus Idealismus und Materialismus sprechen, die neue hybride Formen des Paganismus und der Gnosis produziert und ihrerseits dem Ziel der „Selbsterlösung“ des Menschen huldigt. Diese Haltung reagiert allergisch auf alles, was die Utopie der Moderne kritisch in Frage stellt. Sie ist, nebenbei gesagt, mit dem Wiedererstarken eines militanten, fundamentalistischen Atheismus der Wissenschaftler verbunden.12

Das Unbehagen in der Kultur hat indessen kein Ende. Im Gegenteil, die Verwunderung über die Weiterexistenz des unausrottbaren „Dunklen“ im Menschen nimmt Formen an. Künste und Medien reproduzieren beständig neue Figuren eines unvorstellbaren, allgegenwärtigen Bösen13, dessen Verwirklichung selbst die schlimmsten Befürchtungen übersteigt (brutale Kriege, Kinderpornographie, Missbrauch und Kinderkriminalität, Drogenabhängigkeit der Jugend, gesellschaftliche Korruption u.a.m.) Gleichzeitig nimmt die allgemeine Erschütterung über die zerstörerischen Kräfte der Natur zu und die Illusion einer „Harmonie“, die auf der Negation der Kontingenz und des Bösen sowie des Destruktionstsriebs beruht, verliert zunehmend an Kraft, und zwar ungeachtet aller öffentlichen Selbstzufriedenheit.

Noch einmal wird damit nach der Periode von 1914-1954 der idealistisch-humanistische, naive Optimismus widerlegt, dass wir uns auf der höchsten Stufe der Zivilisation befinden und Formen des Bösen „allmählich eliminiert“ wären. An der Oberfläche mag der alte Fortschrittsglaube deshalb weiter bestehen, vor allem in den Teilen der Bevölkerung, die in Selbstzufriedenheit, Moralisierungstendenz, „politischer Korrektheit“ oder auch amoralischer Permissivität kein Übel zu sehen vermögen. Gleichwohl wäre es absurd zu glauben, dass mit der humanistischen Ideologie der partikularistisch verstandenen, abstrakten Menschenrechte die Probleme der sozialdarwinistisch hedonistischen und individualistischen Kultur gelöst werden könnten.

3. Das Unheimliche im 20. und 21. Jahrhundert

Der Krieg von 1914-18 und seine Folgen waren das traumatische Ereignis par excellence; sie konstituierten die fundamentale Krise der Spätmoderne und sind der Anfang vom Ende der europäischen Hegemonie in der Welt. Die damals junge Generation der Intellektuellen stellte das Ende der Herrschaft der bürgerlich-liberalen und der sozialdemokratischen Ideologie des linearen Geschichtsfortschritts fest, denn diese Ideologien absorbierten und verschwiegen jeden Riss und jedes Versagen in den Erwartungen der Einzelnen.

Wie viele andere junge Denker seiner Generation übte Franz Rosenzweig radikale Kritik an dem dominierenden optimistischen Diskurs der Vernunft, der seinerzeit die Geschichte bewegte.

Dieser Diskurs war gebildet durch Begriffe wie Kontinuität, physikalische Kausalität, evolutionistischer und quantitativer Fortschritt, Selbsterlösung und Rettung wie Rationalisierung des Bösen. Ebenso wie der Moment der Gegenwart, der vor der Zukunft unbedeutend und flüchtig ist, hierbei von Bedeutung ist, der die Vergangenheit verdrängt.

Im Gegensatz zu der auf Hegel und Marx wie die liberale Utopie gestützten Auffassung von Zeit, wonach Zeitlichkeit eine Kategorie der Notwendigkeit ist, betonte Rosenzweig, dass der Erste Weltkrieg nicht mehr als ein Moment in der Dialektik des Geistes wie bei Hegel betrachtet werden könne, sondern die totale Zerstörung und einen schlechten Bruch im hegelschen Begriff der Weltgeschichte bedeutet.14

Wie viele andere mit ihm führte Rosenzweig daher den Begriff der Diskontinuität in die Geschichte ein; insofern die Brüche, Krisen und Katastrophen der Geschichte eine emphatische, symptomatische Bedeutung erlangt hatten. Inspiriert durch das Denken von S. Kierkegaard betonte er, dass Zeitlichkeit außerdem einen qualitativen Charakter besitze. Die „Verschränkung“ der drei Momente der Zeit und ihre Verdichtung in der Gegenwart verleihe erst der Vergangenheit wie der Zukunft einen Sinn. Erst zeitlich verschränkt werden das Elend, der Schmerz, die Vernichtung der Individuen wie die Verbrechen der Kriege und die Revolutionen der Vergangenheit nicht mehr durch die Zukunft „absorbiert“ (W. Benjamin).

Die Zeitlichkeit der Diskontinuität steht für die jungen Denker 1920 sodann im Zeichen unterschiedlicher Möglichkeiten. Wobei insbesondere für Rosenzweig hinter den Möglichkeiten des unvorhersehbar Neuen die Kategorie des zweideutigen Unmöglichen, des Absoluten steht. Letzteres stützt sich auf die transzendente oder quasi transzendente, eschatologische Hoffnung auf das Ereignis des Bruchs in der Geschichte. D.h. es geht um die Ankunft der messianischen Zeit (die in jedem Moment eintreffen kann), um einen Riss, der einen unvorhersehbaren Schnitt in die Kontinuität des Alltags einführt. Die Hoffnung auf das Eintreffen dieser Zeit lasse die (gläubigen) Menschen wirkliche Veränderung und das Erscheinen des Neuen erwarten. Sie konstituiert damit das Ereignis, das hier und jetzt stattfindet und das ein Fragment des Absoluten darstellt, das nicht im gewöhnlichen Fluss der Geschichte aufgeht.15

4. Hannah Arendt

Man kann das Denken von Hannah Arendt nicht richtig verstehen, wenn man nicht berücksichtigt, dass sie in ständigem Dialog mit der damaligen Intelligenz stand, bei der es außer oben erwähnten radikalen, auch liberale und konservative Tendenzen gab. In diesem Sinn ist zu verstehen, dass H. Arendt den Begriff des unvorhersehbar Neuen von Rosenzweig wie auch den des „Schwindels vor der Freiheit“ (Kierkegaard) aufgreift und in ihr Denken Momente einbezieht, die aus dem „Nichts heraus kommen“, d.h. Ursprünge, Gründungen, Zusammenbrüche, Neugründungen, die das Neue implizieren. Gleichwohl teilte Arendt die Erwartung des eschatologischen, messianischen Ereignisses von Rosenzweig nicht.

Das radikale Neue hat immer einen ambivalenten und zweideutigen Charakter. Es kann immer zu Gewalt, Chaos, Diktatur und zur Katastrophe führen. Es kann stets eine radikale Gestalt des Bösen (Totalitarismus, Fundamentalismus) annehmen, wie es auch zu einer flüchtigen Form des Guten werden kann. Weil beide Ausgänge offen stehen, sollte keine von beiden Formen, am allerwenigsten Letztere, das Gute, in der Welt der Immanenz und Endlichkeit verabsolutiert werden. Denn die Präsenz des Unmöglichen, des charismatischen Moments, die Ausnahme von der Kontinuität bedeutet niemals die Abschaffung der Alltäglichkeit. Im Gegenteil, der Ausnahme verdankt die Alltäglichkeit erst ihre Existenz. Gerät dieser Zusammenhang in Vergessenheit, wird eine umso schlimmere Form des Bösen entstehen.

Arendt hat diese Zusammenhänge klar gesehen, insbesondere da, wo sie den friedlichen, aber kurzlebigen, demokratischen Aufständen seit 1950 Bedeutung beimisst, ohne diese zu idealisieren. (Ich ergänze die Liste für die Zeit nach ihrem Tode im Jahre 1975: Berlin 1953, Budapest 1956, Berkeley 1964-68, Westberlin 1966-69, Paris 1968, Prag 1968, Polen 1980, Berlin und Osteuropa 1989, Peking 1989, Iran 2009, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jemen, Bahrain, Syrien 2011, usw.)

Alle diese Versuche “misslangen“, degenerierten, waren nur partiell erfolgreich, wurden verzerrt realisiert oder waren nicht das, was die Akteure erwartet hatten.16  16

All dies ist die Regel in der Geschichte, was jedoch die Bedeutung der Ereignisse nicht mindert, da die Ereignisse stets zu Symbolen erhoben werden. Und die Macht der Symbole ist schließlich stärker als die leichten Erfolge in der Geschichte. Symbole schreiben sich nämlich in das Gedächtnis der Generationen ein, sie kommen als Forderungen zurück. Aber H. Arendt ist keine Anhängerin des Spontaneismus, sie denkt differenziert. In ihrem ganzen Werk betont sie die Bedeutung der Institutionen und die Notwendigkeit der Institutionalisierung von Revolutionen, etwas, was das Studium der Geschichte nur bestätigt.

In besonderer Weise betont sie die Bedeutung, die die Enthüllung der Wahrheit in der Politik besitzt, (Eichmann-Prozess 1961, Watergate-Skandal 1974), insofern sich an diesen Stellen die Widerstandsmöglichkeiten zeigen, die gegen das Böse in der Politik existieren. Bei aller Bedeutung, die das charismatische Element für die Mobilisierung der Individuen hat, ist es H. Arendt bewusst, dass die Veralltäglichung des Charismas, d.h. seine Institutionalisierung, genauso notwendig ist, da ohne diese kein kollektives Gedächtnis, keine Geschichte und keine Zukunft existieren würden.17 Für Arendt ist deshalb unzweifelhaft, dass die wahre Mobilisierung stets „im Namen“ eines Ereignisses, einer Idee, eines Symbols steht. Es gibt eine Dialektik des charismatischen Ereignisses und der Institutionalisierung, und zwar im Rahmen der Wiederholung. Einer Wiederholung, an der W. Benjamin die Pflicht der Lebenden gegenüber den Toten betont, insofern die Lebenden in der messianischen Zeit dazu aufgerufen sind, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

5. Krise

Seit dem 19. Jahrhundert ist die Krise dauerpräsent. Bereits 1948 lieferten der junge Marx und Kierkegaard eine klassische, kritische Beschreibung der ambivalenten Gefühle, die die unheimlichen historischen und biographischen Ereignisse und ihre Symptome begleiten. Demzufolge wirkt sich eine Krise immer auf zwei Seiten aus. Einmal auf die subjektive Lage der Individuen (in Gestalt von Verzweiflung), zum anderen auf den kollektiven Zustand der sozialen Gruppen und Schichten (als Entfremdung). Krise hat ein Proteus-Gesicht, sie produziert immer neue Symptome, sie wird wiederholt von Verschärfungen begleitet oder geht in einen latenten Zustand über. Die Krise ist das Schicksal der Moderne. Hinter den Einzelfällen finden sich immer die gleichen Züge wieder.18

Ende des 19. /Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte in der allgemeinen Wahrnehmung der beruhigend optimistische, aber trügerische Eindruck, dass Europa die Ideale der Aufklärung endlich verwirklicht hätte: „Fortschritt“, „Wohlstand“, „Freiheit“ und „Friede“.

Doch die große allgemeine Krise kommt in Europa (s.o.) Ende des ersten Weltkrieges zum Ausbruch. Das besiegte Deutschland machte die kumulierte Leidenserfahrung aller Übel: von der Auflösung der Wirtschaft und des Staates bis hin zur Auflösung der Werte und Identitäten. Die große Wirtschaftskrise von 1929 gibt der Weimarer Republik nur noch den Gnadenstoß, da die Republik längst von innen her zersetzt war. Alle, die jetzt eine radikale, extreme Lösung vorschlugen, waren längst selbst ein Teil des Problems geworden.

Arendt erlebte die Krise in früher Jugend, beginnt aber erst nach dem zweiten Weltkrieg sich über die Folgen, die sich zwischen 1945 und 1970 manifestieren, zu äußern. Vor allem sieht sie einen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, der zur Wiedergeburt des demokratischen Rechtsstaats in Westeuropa führte, im Alltag aber seine leisen Spuren hinterließ; Spuren, die nur von denen, die Augen zu sehen und Ohren zu hören hatten, wahrgenommen wurden.

6. H. Arendt, Die Banalität des Bösen

In ihrem Text über das Böse (Vorlesungen im Jahre 1965, USA), konzentriert sich Arendt auf die moralischen Werte, von denen die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts noch glaubten, dass sie unveränderlich und von vitaler Bedeutung seien, nach dem ersten Weltkrieg jedoch zusammengebrochen sind.19

Es geht um Fragen, die das individuelle Verhalten und die wenigen Regeln und Normen betreffen, durch welche Menschen normalerweise das Rechte vom Unrechten unterscheiden. Sie dienen dazu, sich selbst und die anderen als Teile eines göttlichen Gesetzes oder eines Natur-Gesetzes zu rechtfertigen, wenn nicht, sich selbst in Frage zu stellen. Das galt bis zu dem Moment, an dem all diese Normen, in einer Nacht, ohne Vorwarnung, zusammenbrachen. Etwas Unheimliches schien sich plötzlich ereignet zu haben.

In der Zeit zwischen 1933-45 erlebten die Menschen den totalen Zusammenbruch aller ethischen Gesinnungen. Die Normen im öffentlichen und privaten Leben lösten sich auf. Insbesondere in Deutschland – aber auch in Russland wie anderenorts – wurden neue Regeln gegen die bisherigen Werte der Aufklärung, des Christentums und Judentums eingeführt. Die Ethik reduzierte sich plötzlich auf eine Reihe von Sitten, Gewohnheiten und Konventionen. Bemerkenswerterweise passierte dieser Wandel aber nicht nur bei kriminellen Individuen, sondern bei den ganz gewöhnlichen Menschen, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sofort wieder zur „Normalität“ zurückgekehrt waren.20

In Westdeutschland folgte bis 1960 eine Verdrängungsperiode, während die ethische Frage in Zusammenhang mit den Monstrositäten der vorhergehenden Zeit in der Schwebe blieb. (Im totalitären Regime Ostdeutschlands gab es nie eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die kollektiv verdrängt wurde). Indessen ging es um etwas, wozu es noch keinerlei ethische und rechtliche Norm gab, die man zur Beurteilung hätte heranziehen können.

Arendt betont, dass das, was geschehen war, der Genozid an den Juden und Zigeunern, die Versklavung und Vernichtung von Russen und Polen, etwas war, das nie hätte geschehen dürfen (das Unheimliche). Sie stellt fest, dass es dabei nicht einfach um Kriegsverbrechen von gewöhnlichen Mördern ging. (Juristisch wurde das Problem mit der Einführung des Begriffs „Verbrechens gegen die Menschheit“ durch die UNO gelöst, d.h. durch den Begriff von Verbrechen, die jedes andere Verbrechen übersteigen. Nach 1945 fanden solche Verbrechen gegen die Menschheit in Kambodscha, Ruanda und Bosnien (Srebrenica) statt.21

Was Deutschland betrifft, so gab es nach H. Arendts Beobachtung damals viele „falsche“, weil rein gefühlsmäßige Reaktionen auf die Verbrechen. Beispielsweise Reaktionen, bei denen die Konfrontation mit den Verbrechern rein gefühlsmäßig auf Entrüstung und Schuldgefühl reduziert wurde. Arendt unterstreicht indessen positiv die Tatsache, dass die nach 1960 einsetzenden Prozesse gegen die nationalsozialistischen Verbrecher bedeutende Folgen für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hatten. Die Verurteilungen hatten als solche große politische und ethische Bedeutung für die neuerliche Etablierung des Gefühls der Gerechtigkeit in der Gesellschaft.

So konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die konkrete Person der Angeklagten in der Massengesellschaft, d.h. in einer Gesellschaft, in der es ideologisch und praktisch vorgegeben ist, die eigene Verantwortung auf die „Gesellschaft“, die „Partei“, das „Unbewusste“ oder die „Natur“ abzuschieben. In den Prozessen wurde jedoch die Frage gestellt, warum der Angeklagte zu einem Machtträger in der Organisation des Staates oder der Partei geworden war. Arendt besteht darauf, dass die Mehrzahl der NS-Täter keine gewöhnlichen Kriminellen, sondern ganz „normale Menschen“ waren, die Befehle anderer exekutierten oder ihren Mund und ihre Ohren gegenüber allem, was sie sahen oder hörten aus Karrieregründen und Opportunismus verschlossen hatten.

Die Prozesse brachten ein starkes Interesse der Öffentlichkeit für ethische Fragen zutage.22

Als Folge der Identifizierung vieler integrer Menschen mit den Angeklagten gab es mancherlei ethische Konfusion. So wurde das Argument geltend gemacht, dass „in jedem von uns ein Eichmann steckt“. Ein Argument, das auf falsche Weise die wesentlichen Unterschiede zwischen Schuldigen und Unschuldigen verwischte und für Konfusion zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sorgte, d.h. die Tatsache verwischte, dass ein Individuum nur in der Wirklichkeit durch seine Tat schuldig wird.

Arendt betont in dem Zusammenhang, dass heute (1965) kein Mensch mehr daran glaubt, dass ethische Regeln selbstverständlich sind, alles ist relativ geworden. Genau diese Situation ist seit 1980 wieder gegeben, seit Anfang des 21. Jahrhunderts ist sie sogar verstärkt da. Sie ist das Ergebnis der weltweiten Herrschaft des „Casino-Kapitalismus“ und des relativistischen, nihilistischen Amoralismus der sogenannten Postmoderne.23

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch H. Arendts Bemerkung, dass viele Menschen, die es damals vermieden, verbrecherische Taten zu begehen, nach 1945 ihre Haltung nicht mit einer religiösen Weigerung erklärten, sondern sie subjektiv „ethisch“ legitimierten: „Denn sie konnten nicht die Verantwortung für jene Handlungen übernehmen“. Arendt sieht hier eine Konsequenz der Tatsache, dass im 20. Jahrhundert die Furcht vor der Strafe im Jenseits abhanden gekommen ist.

Diejenigen, die während des III. Reichs das ethische Gesetz nicht übertreten hatten, betrachteten das als „Selbstverständlichkeit“: „Ich konnte es nicht tun“. Das bedeutet eine Haltung, die einerseits als Enthaltung vom Handeln eine Ohnmacht anzeigt und auf Enthaltung in der kollektiven Sache hinweist. Andererseits läuft diese Haltung auf eine Grundentscheidung hinaus, die von dem Moment an getroffen ist, ab dem das ethische Gesetz real als etwas Absolutes, ohne Alternative anerkannt ist, so dass man nichts anderes mehr tun konnte. (Es gab eine Minderheit von Christen, die aktiv am Widerstand gegen das III. Reich teilnahmen, wofür sie mit dem Leben bezahlten.)

H. Arendts Interesse gilt auch den philosophischen Kriterien, mit denen das Böse im politischen Raum lokalisiert werden kann. Es ist von Bedeutung, dass sie im Zuge ihrer Überlegungen das Denken vom Erinnern unterscheidet und festhält, dass nur die Erinnerung und das Gedächtnis in der Lage sind, die Spuren der Vergangenheit aufzubewahren. Wenn ich mich weigere, mich zu erinnern, kann ich alles Mögliche tun. Der Zusammenhang verweist auf die Rolle der Wahrheit in der Politik. Andererseits ist die unbewusste Weigerung, sich zu erinnern, die Basis der Neurosen.24

Was die verzweifelten und verstockten Verbrecherfiguren – mit literarischer „Aura“ – angeht, so bilden sie für Arendt nicht die höchste Form des Bösen. Das höchste Böse wird vielmehr durch denjenigen verkörpert, der sich nicht mit sich selbst unterhält und sich nicht erinnert: Das höchste Böse ist für Arendt in diesem Sinne nicht radikaler Natur; es hat im Gegenteil weder Wurzeln noch Grenzen. Es findet sich bei Individuen, die sich selbst verlassen haben, die unfähig sind, ein „zwei-in-einem-Individuum“ zu sein. Das betrifft beispielsweise alle gewissenlosen, verstockten Kriegsverbrecher, die nachträglich nie Reuegefühle und Symptome gezeigt haben. Bei ihnen kommt zu den Verbrechen gegen die Menschheit noch die durch Ideologie und Rationalisierung vermittelte Dimension der – kollektiven, stammes- oder klassenmäßigen – grenzenlosen Vernichtung des Anderen hinzu.25

Arendt betont ferner, dass in bestimmten Grenzsituationen, das was zählt, nicht das objektive Böse, sondern das subjektive Böse ist. Der Urheber und das „wie“ der Tat zählen, nicht das „was“, die Tat und ihre Folgen allein. Die Tat bestimmt dann das höchstmögliche Böse als das, was von „Nichtpersonen“ getan wurde (Banalität des Bösen), d.h. von jenen, die willentlich auf das Attribut des Personseins verzichtet haben. Das meint all jene, die sich weigerten, sich an ihre Taten zu erinnern und die nicht mit anderen kommunizierten. Ebenso wie sie sich weigerten, in den inneren Dialog mit sich selbst einzutreten und so zu blinden Vollstreckern der Befehle der anderen wurden.26

Indessen hat die Forschung um die Person von Eichmann ans Licht gebracht, dass Eichmann keinesfalls eine Marionette im allgemeinen Vernichtungsapparat war, sondern er sich selbst als „Idealisten“ betrachtete, der bewusst an das, was er aus Überzeugung tat, glaubte und darin seine Befriedigung fand.

Arendt betont schließlich, dass die größte Gefahr der Spätmoderne in der Indifferenz gegenüber dem Anderen liegt. Diese Gefahr äußere sich als Indifferenz gegenüber der Ohnmacht des Anderen wie als Indifferenz gegenüber der moralischen Qualität der Menschen, mit denen man Umgang pflegt. H. Arendt denunziert ebenfalls die spätmoderne Tendenz der Weigerung oder des Verzichts auf Beurteilung der öffentlichen Dinge und Personen wie die Weigerung, überhaupt Stellung zu beziehen. In all diesen Fällen handele es sich um Verleugnungen der Wahrheit. In solchen Haltungen sind auch die Stolpersteine (Skandale) begriffen, über die Individuen tatsächlich ins Straucheln geraten, insofern hier nicht bewusste und verständliche Motiven zugrunde liegen. Letztlich liegen hierin auch der Horror des Bösen und gleichzeitig seine Banalität im 20/21. Jahrhundert.27

7. Fazit und Schluss

In der Spätmoderne sind die Individuen zur ständigen Veränderung der Institutionen wie zur Beschleunigung der gelebten Zeit gezwungen. Sie leben in angstbesetzter Ungewissheit und existentieller Unsicherheit. Sie werden vom Zwang dominiert, die Phantasmen der sogenannten „Authentizität“ und „Selbstverwirklichung“ zu realisieren und dieses im Rahmen der Immanenz einer eindimensionalen, herzustellenden und zu konsumierenden Welt zu tun. So wird jedem Glauben an die Transzendenz der Garaus gemacht.

Die Folgen all dessen, der beschleunigten Zeit, der inflationären Akkumulation von „Müll-Informationen“, von ständiger Zerstreuung, Unfähigkeit zur Selbstkonzentration etc. sind vielfältig. Sie zeichnen sich ab durch ein „Ausbleiben“ der gelebten Zeitlichkeit und des kollektiven Gedächtnisses, durch das Ausbleiben einer Zeit der Ruhe und Besinnung wie der Zeit zur Selbstkritik.28 Aktuell politisch betrachtet könnte man sogar der Auffassung sein, dass das höchste Ziel der links-liberalen Kulturideologie darin besteht, programmatisch auf die Abschaffung des strukturellen, existentiellen „Mangels“ hinzuarbeiten. Die Folgen dieses Programms sind jedenfalls offensichtlich. Sie sind anzutreffen in der Instrumentalisierung des Lebens und der Sexualität, die heute die symbolischen Grundlagen des monotheistischen, kritisch philosophischen und psychoanalytischen Diskurses unübersehbar unterminieren. Zustande gekommen sind damit ein Werterelativismus, nivellierender Massenkonsum wie insgesamt die Banalisierung und Eklipse des Sinns der Kulturerbschaft.29

Fußnoten

  1. Vgl. Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 12 und 13. Vgl. auch Jonas, H. [1999]: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Insel Verlag, Frankfurt a.M. und Leipzig und Brumlik, M. [1994]: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Eichborn, Frankfurt a.M.
  2. Vgl. Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 14.
  3. Ebd. 15 und 16. Etwas Homologes fand auch in der geschlossenen Welt des Hofstaats im absolutistischen 17. Jahrhundert statt. Die Würde der Person ist aber auch ein Hauptbegriff der (neu-stoischen) Ethik Kants. Weber, M. [1922]: Soziologie der Religion. In: Ders. [1922]: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage, Tübingen, 1972, S. 307-8.
  4. Heimarmene und Ananke sind in der nicht monotheistischen Religion Namen des kosmischen Gesetzes. Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
  5. Ebd. 16 und 17.
  6. Ebd. 18.
  7. Ebd. 20.
  8. Ebd. 9. Noch für Pascal ist die Kontingenz des Menschen mit dem Willen Gottes konform. Der Wille Gottes hat „mich in diese unendlich kleine Ecke der Natur ‚geworfen‘“. Der verborgene Gott-Vater ist Geist, Wille, Macht und Liebe. Der „Tod“ Gottes im 19. Jahrhundert führte dennoch zum „Tod des Menschen“, der danach nur noch ein Wille zur Macht ist. Obwohl Pascal auf authentische Weise an die Erlösung durch Christus glaubte, litt er darunter, dass der „Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesus“ nicht mehr der „Gott der Philosophen“ war.
  9. Ebd. 23 und 24.
  10. Ebd. 17 und 18.
  11. Weber, M. [1922]: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, 508 und ders. [1922]: Soziologie der Religion. In: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie der Religion, Tübingen, 1972, 23-27.
  12. Kehl, M. [1986]: Eschatologie, Echter Verlag, Würzburg, 268 und Taubes, J. (Hg.) [1984]: Gnosis und Politik, 2. Bd. der Reihe Religionstheorie und Politische Theorie, Fink Verlag, München und Schöning, Paderborn
  13. Kehl, M. [1986]: Eschatologie, Echter Verlag, Würzburg, 269
  14. Mosès, S. [1992]: L´Ange de l´Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Seuil, Paris, 21-2, 66 und 313-351. Lipowatz, T. [2014]: Die trügerische Verführung und die unheimliche Enthüllung des Bösen, Weidler Verlag, Berlin
  15. Mosès, S. [1992]: L´Ange de l´Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Seuil, Paris, 23-24. Voegelin, E. [1938]: Die politischen Religionen, Fink Verlag, München, 1993.
  16. Arendt, H. [1963]: Über die Revolution, Piper, München, 1974 und diess. [1970]: Macht und Gewalt, Piper, München, 1981.
  17. Arendt, H. [1963]: Eichmann in Jerusalem. A report on the banality of evil, New York. Diess. [1972]: Wahrheit und Lüge in der Politik, Frankfurt a. M.
  18. Vgl. Ahrendt, H. [1968]: La crise de la culture, Gallimard, Paris, 1973, Koselleck, R. [1954]: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1974 und Adorno, Th. W., Horkheimer, M. [1947]: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1986
  19. Vgl. Ahrendt, H. [1965]: Über das Böse, Piper, München, 2008
  20. Ebd. 10 und 14-15.
  21. Ebd. 17-18.
  22. Ebd. 19-23.
  23. Ebd. 24-26.
  24. Ebd. 30, 51-53 und 75.
  25. Ebd. 76-77.
  26. Ebd. 101.
  27. Ebd. 150.
  28. Hervieu-Léger, D. [2002]: Une crise dont l´Eglise pourrait ne pas sortir. In: Rémond, R., Delumeau, J., Gauchet, M., Hervieu-Léger, D., Valadier, P. (Hrsg.) [2002]: Chrétiens tournez la page. Bayard, Paris 91 und 96.
  29. Ebd. 97.

Literatur

Adorno, Th. W., Horkheimer, M. [1947]: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1986

Arendt, H. [1963]: Eichmann in Jerusalem. A report on the banality of evil, Viking Press, New York

—[1963]: Über die Revolution, Piper, München, 1974

—[1965]: Über das Böse, Piper, München, 2008

—[1968]: La crise de la culture, Gallimard, Paris, 1973

—[1970]: Macht und Gewalt, Piper, München, 1981

—[1972]: Wahrheit und Lüge in der Politik, Piper, München

Brumlik, M. [1994]: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Eichborn Verlag, Frankfurt a.M.

Hervieu-Léger, D. [2002]: Une crise dont l´Eglise pourrait ne pas sortir. In: Rémond, R., Delumeau, J., Gauchet, M., Hervieu-Léger, D., Valadier, P. (Hrsg.) [2002]: Chrétiens tournez la page. Bayard, Paris

Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

—[1999]: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Insel Verlag, Frankfurt a.M. und Leipzig

Kehl, M. [1986]: Eschatologie, Echter Verlag, Würzburg

Koselleck, R. [1954]: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Surhkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1974

Lipowatz, T. [2014]: Die trügerische Verführung und die unheimliche Enthüllung des Bösen, Weidler-Verlag, Berlin

Mosès, S. [1992]: L´Ange de l´Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Seuil, Paris, 21-2, 66 und 313-351.

Taubes, J. (Hg.) [1984]: Gnosis und Politik, 2. Bd. der Reihe Religionstheorie und Politische Theorie, Fink Verlag, München und Schöning, Paderborn

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—[1922]: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1968

Voegelin, E. [1938]: Die politischen Religionen, Fink Verlag, München, 1993