Maximilian Thieme

Y – Z Atop Denk 2022, 2(11), 2.

Abstract: Worin könnte die Aktualität Sartres bestehen? Um diese Frage zu beantworten, zeichnet der Essay eine gedankliche Linie von Sartre über Foucault hin zu Eribon, deren Zielpunkt eine gesellschaftskritische Analyse des „Blicks“ ist. Dieser offenbart sich als ein Urteilsspruch und Ruf zur Ordnung, der jene, die er trifft, auf eine Norm verpflichtet und alle Formen der Abweichung mit dem Stigma des Anormalen brandmarkt. Die Scham als Folge dieser Unterwerfung lässt sich innerhalb vieler Register menschlichen Daseins beobachten. Hier wird das „homosexuelle In-der-Welt-sein“ in seiner Heimsuchung durch die Scham betrachtet – ebenso wie die Gesten des Widerstandes, mit denen es der Abjektion begegnet.

Keywords: Scham, Homosexualität, Blick, Widerstand

Veröffentlicht am: 30.11.2022

Artikel als PDF: pdfBlicke überall

 

1. Eine Frage der Aktualität

Woran erweist sich die Aktualität eines Denkens? Dass es noch etwas zu sagen, einen Beitrag zu den Fragen der Zeit zu leisten hat, auch wenn die philosophische Situation, aus der es geboren wurde, längst vorbei ist? – Diese Fragen lassen sich auch an Sartre, und vor allem vielleicht an den Sartre von Das Sein und das Nichts (1993) richten. Schließlich ist die intellektuelle Bewegung des Existentialismus vergangen und so mag uns einiges als eher unzeitgemäß erscheinen, das Sartre im Rahmen seines Versuchs einer phänomenologischen Ontologie formuliert hat.

Und doch weiß dieser Sartre ein Wissen von der menschlichen Erfahrung zu vermitteln, das den Nerv unserer Aktualität sehr wohl trifft. So erweist es sich deutlich am Blick-Kapitel jenes monumentalen Werkes, an den Äußerungen zum Phänomen der Scham. Diese nämlich finden einen Resonanzraum in den Arbeiten einer Reihe von Autor:innen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Begriff der Scham zum Gegenstand der politisch-intellektuellen Debatte zu machen: Annie Ernaux, Édouard Louis und Didier Eribon wären hier als die prominentesten Vertreter:innen im französischsprachigen Raum zu nennen. In selbstanalytischen Erzählungen sowohl literarischen als auch theoretischen Charakters thematisieren sie die Unterwerfung als Subjekt der Scham, die sie als eine der hervorstechenden Unterdrückungsformen gegenwärtiger Gesellschaft erkennen.

Unter diesen Phänomenolog:innen der Scham ist es Eribon, den man gleichermaßen als Theoretiker des Blicks, und zwar durchaus im Sinne Sartres, ansprechen kann: „Der ‚Blick‘ des anderen und die ‚Scham‘, die er bewirkt, sind nicht einfach nur universale Strukturen, wie Sartre es will, sie sind ebenso soziale Strukturen mit klar markierten Hierarchien“, schreibt er in seinen Grundlagen eines kritischen Denkens (Eribon 2018a, S. 89). Der Wechsel ins gesellschaftstheoretische Register, den er vollzieht, geht allerdings einher mit einem Wechsel des Einsatzes. Eribon geht es nicht um ontologische Fragen; er zielt auf eine kritische Analyse von Prozessen der inferiorisierenden, stigmatisierenden Kategorisierung, der Unterwerfung. Und der Blick spielt hier insofern eine zentrale Rolle, als Eribon in ihm eine Form des sozialen Verdikts erkennt, einen Urteilsspruch und Ruf zur Ordnung, der jene, die er trifft, auf eine Norm verpflichtet und alle Formen der Abweichung mit dem Stigma des Anormalen brandmarkt. Gleichwohl bleibt er Sartre treu, indem er die Scham als Folge des Erblickt-werdens theoretisch ernst nimmt: ein „verschlungenes, kaum zu entflechtendes Gewebe von Affekten“, welches das In-der-Welt-sein der Erblickten – das heißt der Unterworfenen – heimsucht und sie einer „hontologischen“ Realität aussetzt, in der die Blicke der anderen überall und jederzeit spürbar werden (Eribon 2017, S. 38).

Im Folgenden wird es mir darum gehen, den Weg nachzuvollziehen, der von Sartres ontologischer zu Eribons gesellschaftstheoretischer Analyse des Blicks und der Scham führt. Dies bedeutet in erster Linie zu zeigen, wie die scheinbar geschichtslose Beschreibung des Blicks durch Sartre eine historische Sättigung erhält, wie sich an den beschriebenen, gleichsam anonymen Strukturen gesellschaftliche Strukturen und also Machtverhältnisse niederschlagen. So wird deutlich, dass die Gewalt des Blicks vor allem eine normierende Gewalt ist; im Urteilsspruch artikuliert sich stets auch die Gewalt einer Norm, auf deren Missachtung die Strafe der Abjektion steht.

Um den angesprochenen historischen Bezug herzustellen, möchte ich das „homosexuelle In-der-Welt-sein“ in seiner Heimsuchung durch die sexuelle Scham als konkreten lebensweltlichen Gegenstand der Untersuchung bemühen1: Nicht nur ist die Homosexualität, wie Foucault in seiner Geschichte der Sexualität dokumentiert, allererst im Blick der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts und durch diesen Blick als solche entstanden. Darüber hinaus ist das homosexuelle In-der-Welt-sein bis heute wesentlich durch eine Beziehung zum Geheimnis gekennzeichnet (Eribon 2019a, S. 84), sofern das closet Schutz gewährt vor den Blicken der anderen, das heißt der Missbilligung und auch der Feindseligkeit einer in weiten Teilen zumindest heteronormativen, zu oft aber auch homophoben Gesellschaft.

Ein allerdings nur bedingter Schutz, bedenkt man, dass die soziale Gewalt ins Innere der Individuen dringt und noch den privatesten Raum, deren Gedanken und Gefühle, unterwirft und kontaminiert. Es ist diese Erfahrung einer regelrechten Heimsuchung, auf deren Grundlage sich die Formierung einer hontologischen Realität als jenem Horizont der Feindseligkeit ereignet, in welchem Homosexuelle zu leben gezwungen sind.

Zur Aporie, das heißt zur Ausweglosigkeit, muss dieses Dasein deshalb aber nicht geraten. Dieser Gedanke jedenfalls drängt sich auf, wenn man die Geste des coming out im Lichte Sartres betrachtet: ein Sich-zeigen und Sichtbarwerden, das, wenngleich es sich dem Zugriff des Blicks aussetzt, doch als eine Wahl seiner selbst interpretiert werden kann, durch welche die eigenen Freiheitsräume gegen die Zwänge des Verstecks und des Geheimnisses, letztlich gegen die Verfügungsgewalt der Blicke der anderen zu verteidigen versucht werden. Eine Geste spezifisch homosexuellen Widerstands gegen die Macht des Blicks also, die denn auch Sartres Annahme in Frage stellt, es gebe im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen einzig konflikthafte, und das heißt eben auch: gewaltvolle Verhältnisse.

 

2. Sartre – ein Lehrstück über Blick und Scham

2.1. Anerkennung und Verdinglichung, oder: die ontologische Frage

Sartres Deliberationen zu Blick und Scham finden in Das Sein und das Nichts dort ihren Platz, wo das Für-Andere, wo die Existenz Anderer fraglich wird. Die Frage der „Fremdexistenz“, ob und inwiefern wir uns also der Existenz anderer Menschen als erkennender Wesen sicher sein können, ist dabei zugleich eine Frage nach der menschlichen Realität: Wenn diese nicht nur für-sich ist, sondern ebenso für-andere – wie steht es dann um dieses „Sein, das mein Sein ist ohne für-mich-zu-sein“ (Sartre 1993, S. 405)?

Es ist dann das Phänomen des Blicks, auf welches Sartre Bezug nimmt, um die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen zu versuchen. Zunächst einmal gestattet der Blick es, die ursprüngliche Beziehung zum Anderen zu erschließen, die eben nicht darin besteht, dass wir diesen als ein Objekt anblicken können, sondern vielmehr in der permanent gegebenen Möglichkeit, von ihm als Subjekt-Anderem gesehen zu werden. Als Phänomenologe weist Sartre darauf hin, dass die Manifestation eines Blicks einer sinnlichen Gestalt bedarf, die im Wahrnehmungsfeld erscheint, doch ist der Blick selbst nicht notwendigerweise an eine konkrete Gestalt gebunden: zwei auf uns gerichtete Augäpfel vermögen mithin ebenso einen Blick zu manifestieren wie das Rascheln von Zweigen, das abrupt verstummende Geräusch von Schritten oder die sachte Bewegung eines Vorhangs hinter halb geöffneten Fenstern (Sartre 1993, S. 465). Der Blick ist nicht an den Dingen selbst, er ist vielmehr „wahrscheinlichen“ Charakters. Und im Sinne genau dieser Beobachtung fügt Sartre hinzu, dass wir einen Blick niemals als „Blick-Objekt in der Welt“ erfassen, sondern „Bewußtsein davon erlangen, angeblickt zu werden“. Insofern sei der Blick „reiner Verweis auf mich selbst“, ein „Mittelglied, das von mir auf mich selbst verweist“ (Sartre 1993, S. 465). – Diese Gedanken um unsere Bewusstseinsstruktur, den Blick und den Anderen vertieft Sartre des Weiteren exemplarisch an der Schlüssellochszene des Blick-Kapitels, einem Lehrstück über Blick und Scham gewissermaßen, das sich in drei Schritten entfaltet (Sartre 1993, S. 467-472).

Schritt 1 – Eine Person findet sich diesseits einer Tür, auf deren anderer Seite sie Geräusche vernehmen kann. Sei es aus Eifersucht, Neugier oder Verdorbenheit, sie schickt sich an, durch das Schlüsselloch zu spähen, um das Geheimnis um das Schauspiel jenseits der Tür zu lüften. Sartre zufolge spielt sich dies auf der Ebene des „nicht-thetischen“ Bewusstseins ab, die Person handelt präreflexiv, ohne ihren Absichten bewusste Aufmerksamkeit zu schenken. Kein Ich bewohnt das Bewusstsein, was bedeutet, dass die Handlungen nicht qualifiziert und auch nicht erkannt werden – vielmehr ist die Person ihre Handlungen und auch ihr Bewusstsein klebt an ihnen, sofern keine transzendente Sicht sie verdinglicht.

Schritt 2 – Die Situation schlägt nun in dem Moment um, in dem die Person Schritte im Flur vernimmt. Das Bewusstsein, gesehen worden zu sein, stört das präreflexive Handeln und zwingt die Aufmerksamkeit der Person zu einer spontanen Rückwendung auf sich selbst. Es ereignet sich ein „Einbruch des Ich“ ins unreflektierte Bewusstsein als Bewusstsein von der Welt, weshalb es sich im Falle des fraglichen Ichs um ein „Objekt für Andere“ handelt.

Schritt 3 – In einem letzten Schritt offenbart sich die volle Konsequenz des Vorangegangenen als Gewissheit, in der Folge des Erblickt-werdens „wirklich dieses Objekt [zu sein], das der Andere anblickt und beurteilt“. Dieses Faktum, so Sartre, wird von der Person nicht erkannt, sondern erlebt und damit auch anerkannt. Deshalb bezeugt die Formulierung, Objekt für Andere zu sein, hier auch eine gewisse ontologische Tragik: In ihrem

Sein plötzlich getroffen, das heißt durch den Blick des Anderen verdinglicht, erscheint die Person nunmehr in einem „qualitativ distinkten Seinszustand, der durch die Abwesenheit von Transzendenz und Freiheit charakterisiert ist“ (Honneth 2014, S. 147 f.). Nicht mehr von einem Für-sich-sein des Bewusstseins kann hier also die Rede sein, sondern von einem gleichsam indifferenten An-sich-sein, träge und „massiv“ in seiner vollen Positivität, muss hier gesprochen werden (Sartre 1993, S. 42 f.).

Und die Scham? Ihre Bedeutung erschließt sich vom dritten Schritt der geschilderten Szene her: Denn „die Scham ist ihrer Natur nach Anerkennung“, sie „enthüllt“, so Sartre, „den Blick des Anderen und mich selbst am Ziel dieses Blicks“ als bloßes Objekt (Sartre 1993, S. 406, 471). Wie bereits erwähnt, trifft dieses Erleben die betreffende Person in tiefgreifender Weise, wie es sich in folgender phänomenologischen Beschreibung ausdrückt: „[D]ie Scham ist ein unmittelbares Erschauern, das mich von Kopf bis Fuß durchläuft, ohne jede diskursive Vorbereitung“ (Sartre 1993, S. 406 f.). Davon ist auch das Selbstverständnis der erblickten Person in einer existentiellen Weise affiziert: „So habe ich für den anderen meine Transzendenz abgelegt. […] mein Sündenfall ist die Existenz des andern; und die Scham ist […] die Wahrnehmung meiner selbst als Natur, wenn auch eben diese Natur mir entgeht und als solche unerkennbar ist“ (Sartre 1993, S. 473 f.). Und schließlich ist es genau dieses Erleben – und nicht Erkennen –, welches die Lösung für Sartres eigentliches ontologisches Problem, das der Gewissheit über die Fremdexistenz, anzeigt. Honneths treffendem Resümee ist diesbezüglich zuzustimmen, wenn er schreibt: „Ich muss mir seine Existenz [die des Anderen] nicht zu einer Frage der Erkennbarkeit machen, weil ich mir im Gegenteil aufgrund meiner persönlichen Betroffenheit schlagartig gewiss bin, dass er als anderes menschliches Subjekt existiert“ (Honneth 2014, S. 149).2 Diese Gewissheit, resultierend aus der Anerkennung meiner Verdinglichung, geht folglich zusammen mit der Anerkennung des Anderen als einer Freiheit.

 

2.2. Erkenntnis und Unterwerfung, oder: die gesellschaftstheoretische Frage

Diese Analyse der Strukturen von Blick und Scham nun für eine Problematisierung der Unterwerfungsweisen gegenwärtiger Gesellschaft, das heißt für eine gesellschaftskritische Analyse fruchtbar zu machen, bedeutet wie gesagt einen Wechsel des Einsatzes der Analyse. Sartre geht es um etwas anderes als Eribon: Er stellt eine ontologische Frage, nämlich die Frage nach der Fremdexistenz und in eins damit die Frage nach einer bestimmten Seinsweise der menschlichen Realität, dem Für-andere-sein. Eribon hingegen stellt eine gesellschaftstheoretische Frage, indem seine Analyse die Unterwerfung als Subjekt der Scham anvisiert: es ist die Frage nach den Weisen der Ausübung sozialer Gewalt über Machttechniken, zu denen der Blick als Form des Verdikts gehört.

Die angestrebte Transposition kann folglich nicht bruchlos vonstattengehen, schließlich sind die unterschiedlichen Einsätze an je verschiedene Voraussetzungen, Grundannahmen und theoretische Ausrichtungen gebunden. So vollzieht sich etwa Sartres Analyse des Blicks gleichfalls als eine Kritik des „Erkenntnisparadigmas“, welches die sowohl idealistischen als auch realistischen Versuche der Begründung einer Gewissheit – oder genauer: einer gewissen Erkenntnis – über die Existenz anderer bislang geleitet hatte (vgl. Honneth 2014, S. 136-145). Gegen das Erkennen setzt Sartre entsprechend das Erleben, die Erfahrung einer Gewissheit der Existenz anderer. Und so schlägt es sich denn auch in seinen Äußerungen zu Blick und Scham nieder: Die Scham „enthüllt“ und „entdeckt“ der angeblickten Person ihr Sein, das als verdinglichtes eben nicht erkannt, sondern erfahren wird, schlicht und ergreifend, dass sie Objekt, ein Stück bloßer Natur ist. Dieser Umstand steht in engem Zusammenhang mit Sartres Auffassung, nach der die angeblickte Person nicht wissen kann, als was sie erblickt wird. Unbestimmt ist dieses Sein, das die Person ist, weil es einzig für den Anderen ist: an ihr ist etwas, das sich ihr entzieht, sie flieht, dem Anderen aber offensteht. In diesem Sinne ist dieses Sein, wie Sartre sagt, „die Grenze meiner Freiheit“, denn „es ist mir als eine Last aufgebürdet, die ich trage, ohne mich jemals nach ihr umdrehen zu können, um sie zu erkennen“ (Sartre 1993, S. 472).

Für eine Furchtbarmachung der Sartre’schen Analyse für eine Kritik des Blicks als zeitgenössischer Machttechnik, wie sie Eribon vorschwebt, kann diese Prämisse der phänomenologisch-ontologischen Analyse nicht übernommen werden. Wenn der Blick ein Urteilsspruch ist, der diejenigen, an die er ergeht, als Subjekte der Scham unterwirft, kann er nicht von solcher Unbestimmtheit und Inhaltslosigkeit sein, wie Sartres Ausführungen es nahelegen. Kaum vorstellbar, dass all jene, die etwa aufgrund ihrer Homosexualität als Subjekte sexueller Scham unterworfen werden, nicht wissen und sich keine Vorstellung davon machen können, als was sie abgewertet werden und als was sie im Blick der Anderen, der brennend auf ihrer Haut lastet, gesehen werden.

Wenngleich sich Sartre gegen eine derartige Akzentuierung des Erkennens im Rahmen einer Analyse des Blicks verwehrt, so lassen sich manche seiner Äußerungen doch im Sinne einer solchen Perspektive lesen. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels des dritten Teils von Das Sein und das Nichts heißt es etwa: „Ich schäme mich dessen, was ich bin. Die Scham realisiert also eine intime Beziehung von mir zu mir: durch die Scham habe ich einen Aspekt meines Seins entdeckt“ (Sartre 1993, S. 405 [Hervorhebung des Verf.]). Nicht nur fordert Sartres Wortwahl beinahe dazu heraus, in der Wirkung von Scham ein Moment der selbstbezogenen Erkenntnis zu erkennen; mehr noch ist es die „intime Beziehung von mir zu mir“, die auf das Subjekt-sein verstanden als Unterworfen-sein verweist. Foucault zufolge bezeichnet der Begriff „das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist“ (Foucault 2005a, S. 245).3 Im Blick des Anderen ist man gezwungen, sich selbst zu begegnen, und zwar einem Sein seiner selbst, das vor dem Erscheinen des Anderen und der Konfrontation mit seinem Blick nicht in einem angelegt war. Im Zeichen der schamvollen Selbsterkenntnis vollzieht sich diese Konfrontation gleichsam als Kolonisation des Seins durch eine Bedeutung, die ihm von außen, vom Anderen her gewaltsam zugeschrieben wird.

Man sieht, inwiefern Erkenntnis und Unterwerfung hier Hand in Hand gehen.4 Und das Stichwort der Unterwerfung verdient nun insofern noch einmal hervorgehoben zu werden, als es auf die dem Blick eigene Gewaltsamkeit verweist. Gewiss, Sartres Schlüssellochszene zeugt von einer Unterwerfung, nämlich einer Freiheit durch eine andere, mithin von einer Gewalt, die sich in der Verdinglichung als ontologischer Degradierung der angeblickten Person ausdrückt. Allerdings wird dieses gewaltsame Moment von Sartre nicht eigens als solches betont oder ausbuchstabiert – die Tatsache der Verdinglichung steht gewissermaßen für sich.

Eine gesellschaftstheoretische Problematisierung von Blick und Scham hat demgegenüber die Ausübung von sozialer Gewalt durch den Blick, wie sie in der Empfindung von Scham zum Ausdruck kommt, deutlicher hervorzuheben. In Hinblick auf die in Frage stehenden Unterwerfungsweisen lässt sich dies ausgehend von Foucaults Hinweis auf die Identität als einer Art Effekt der Unterwerfung als Subjekt der Scham nachvollziehen. Die Selbstbegegnung im Blick und durch den Blick des Anderen ist entscheidend für das Verständnis, wer und was man ist. Mit anderen Worten: Die Verfügungsgewalt des Blicks ist allem voran als eine definitorische Gewalt zu begreifen, als Urteil begründet er die Identität und gestaltet die Subjektivität der Erblickten (Eribon 2018b, S. 23). Und dass an der Wurzel der so sich ereignenden Unterwerfung oftmals die gesellschaftlich sanktionierte Norm und Normalität steht, dies verbürgt die Scham als Folge des Angeblickt-werdens. Man schämt sich dessen, als was man erkannt wurde, in erster Linie dann, wenn man im Blick des Anderen der Abweichung von Norm und Normalität schuldig gesprochen wird; wenn die Identität, an die man gebunden ist, eine beschädigte, weil stigmatisierte Identität ist (Goffman 1967), eine von der Norm abweichende Anomalie.

Letztendlich drückt sich in der Scham die Akzeptanz der Stigmatisierung ebenso aus wie die Hinnahme der darin erfahrenen Gewalt. Darin, so weiß Eribon, liegt die „unwiderstehliche Macht“ des Affekts begründet: „dass man dieser Kategorisierung, die sich überall und in jedem Moment erneuert, nie und nirgends entkommen kann, weil es die Gesellschaft im Ganzen ist, die diese Kategorien transportiert, reproduziert und sie uns ohne Unterlass ins Gedächtnis ruft“, und zwar wesentlich durch den Blick des Anderen (Eribon 2018c, S. 112). Nichts Anderes meint die Rede von der hontologischen Realität, einem Leben im Bewusstsein der eigenen sozialen Illegitimität: Blicke überall.

 

3. Foucault’sches Zwischenspiel: Die Geburt der Homosexualität im Blick der Psychiatrie

Nun also zur Homosexualität: Ihre Geschichte zu betrachten sowie spezifische Charakteristika eines homosexuellen In-der-Welt-seins, wird es erlauben, die Strukturen von Blick und Scham sowohl historisch als auch praktisch-lebensweltlich zu konkretisieren, um so, in letzter Konsequenz, die mit ihnen verbundenen Unterwerfungsakte problematisieren zu können.

Den Anfängen der Geschichte (und in gewisser Weise auch der Vorgeschichte) dessen, was man gemeinhin Homosexualität nennt, hat Foucault im Rahmen des ersten Bandes seiner Geschichte der Sexualität nachgespürt. Dort verortet er die Geburt der Homosexualität im 19. Jahrhundert, und damit in einer Zeit, da eine regelrechte „diskursive Explosion“ um den Sex schon lange Zeit im Gange war. Ein Anreiz, über den Sex zu sprechen, der auf die Gegenreformation zurückgeht, auf die Praktiken christlicher Seelsorge, in denen Foucault bereits weniger ein Unterdrückungs- als vielmehr ein Stimulationssystem erkennt: „alles muß gesagt werden“ (Foucault 1983, S. 25). „In diesem allgemeinen Zwang setzt sich vielleicht zum ersten Mal jenes Gebot durch, das dem modernen Abendland so eigentümlich ist“, und zwar

„nicht die Geständnispflicht, der die traditionelle Buße alle Vergehen gegen die Gesetze des Sexes unterwarf, sondern die quasi unendliche Aufgabe, sich selbst oder einem anderen so oft als möglich alles zu sagen, was zum Spiel der Lüste, der zahllosen Gefühle und Gedanken gehört, die in irgendeiner Weise den Körper und die Seele mit dem Sex verbinden“ (Foucault 1983, S. 26).

Diese Technik, so Foucault weiter, hätte nicht allgemeiner Zwang, nicht „Regel für alle“ werden können, „hätten nicht andere Mechanismen sie gestützt und aufgegriffen“: „In erster Linie ein ‚öffentliches Interesse‘. Nicht eine kollektive Neugierde oder Sensibilität, keine neue Mentalität. Sondern Machtmechanismen, für deren Funktionieren der Diskurs über den Sex […] wesentlich geworden ist“ (Foucault 1983, S. 29). Denn der Anreiz, vom Sex zu sprechen, ist in dieser Zeit nicht mehr nur ein moralischer, sondern auch ein „politischer, ökonomischer und technischer Anreiz“. Indem also, wie man sagen könnte, die instrumentelle Vernunft sich des Sexes qua Diskurs bemächtigt, wird dieser zu einer Sache der „öffentlichen Gewalt“ (Foucault 1983, S. 30).

Man versteht, inwiefern diese Diskursivierung des Sexes „wesentlich“ für bestimmte Machtmechanismen ist, wenn man sich vor Augen hält, dass zu ebendieser Zeit ein grundlegender Wandel des Macht-Paradigmas abendländischer Gesellschaft sich vollzieht: weg von einer Vorstellung souveräner Macht als Trägerin des Rechtes, „sterben zu machen und leben zu lassen“, hin zu einer Macht zum Leben, einer „positiven ‚Lebensmacht‘ […], die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren“ (Foucault 1983, S. 131 f.). Entwickelt hat sich diese neue Machtform, so rekonstruiert es Foucault, folglich um zwei Pole, die „politische Anatomie des menschlichen Körpers“ und die „Bio-Politik der Bevölkerung“: auf der einen Seite also disziplinarische Unterwerfung und Formung maschinenhafter, gelehriger, produktiver Körper, auf der anderen Seite die rationale, berechnende Erfassung, Kontrolle und Verwaltung des Gattungskörpers – eine „doppelgesichtige Technologie“ im Dienste der „vollständige[n] Durchsetzung des Lebens“ (Foucault 1983, S. 134 f.).

Und der Sex? Er sitzt an der Schnittstelle dieser beiden Pole: „Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung. Er dient als Matrix der Disziplin und als Prinzip der Regulierungen“. Aus genau diesem Grund wird er nun „zur zentralen Zielscheibe für eine Macht, deren Organisation eher auf die Verwaltung des Lebens als auf der Drohung mit dem Tode beruht“ (Foucault 1983, S. 141 f.).

Vor dem Hintergrund dieser historischen Transformation wird ersichtlich, dass sich die Diskurse über den Sex „nicht außerhalb der Macht oder ihr zum Trotz vermehrt [haben], sondern genau dort, wo sie sich entfaltete, und als ein Mittel zu ihrer Entfaltung“ (Foucault 1983, S. 38). Dies ist die historische Situation, in der die moderne Psychiatrie entsteht, in der sich zeitgleich mit jener allgemeinen Anreizung zu Diskursen über den Sex, und durch sie, das ereignet, was Foucault die „Einpflanzung von Perversionen“ genannt hat. Zwei zusammenhängende Veränderungen tragen sich nun im Rahmen dieser diskursiven Explosion zu: einerseits fungiert die heterosexuelle eheliche Beziehung zusehends als strengere Norm, ohne dass sie derweil Rechenschaft von sich ablegen müsste; andererseits wird die Lust all jener ins Verhör genommen, die sich abseits dieser Norm finden, die Lust der Kinder, der Irren und Kriminellen, und schließlich auch die Lust derer, die nicht das andere Geschlecht lieben – all diese Gestalten rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit, „müssen nun vortreten, um das Wort zu ergreifen und zu gestehen, wer sie sind“ – „Von daher kommt es innerhalb des Feldes der Sexualität zur Heraushebung einer spezifischen Dimension der ‚Widernatur‘“ (Foucault 1983, S. 43).

Man darf die Bedeutung dieser Prozesse nicht unterschätzen: In dieser „Welt der Perversion“, im falschen, weil widernatürlichen Sex schneiden sich die Diskurse: weil er Delikt ist, muss er vor Gericht gestehen; weil er aber zugleich krankhaft ist, findet er sich immer häufiger der Medizin überantwortet. Diese Medizin erfindet eine „ganze organische, funktionelle oder geistige Pathologie“, sie ersinnt eine ganze Ordnung des Wissens vom pathologischen Sex, dessen Verwaltung sie übernimmt, alsbald sie ihn produziert hat. Was sich auf diesem Wege formiert, ist ein Feld der „Abstufung des Normalen zum Anormalen“ (Foucault 2007a, S. 61), eine Fülle von „peripheren Sexualitäten“ wird aufgetan, biographisch erschlossen und klassifiziert.5 Und wer, wenn nicht „der Homosexuelle“ könnte verdeutlichen, inwiefern diese „Einkörperung der Perversionen“ sich in Form einer „Spezifizierung der Individuen“ vollzieht?

„Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. Sie ist ihm konsubstantiell, weniger als Gewohnheitssünde denn als Sondernatur. Man darf nicht vergessen, daß die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie der Homosexualität sich an dem Tage konstituiert hat, wo man sie – und hier kann der berühmte Artikel Westphals von 1870 über ‚die conträre Sexualempfindung‘ die Geburtsstunde bezeichnen – weniger nach einem Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens, einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphrodismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine neue Spezies“ (Foucault 1983, S. 47 [Hervorhebung des Verf.]).6

Wie viele solcher Spezies aus dem Drang nach Kontrolle durch den psychiatrischen Diskurs geboren wurden, belegt der umfassende Katalog, der all ihre „schönen Häresienamen“ führt. Denn „[d]ie Mechanik der Macht, die dieses Disparate verfolgt, behauptet, es allein dadurch zu unterdrücken, daß sie ihm eine analytische, sichtbare und stetige Realität verleiht; tatsächlich hämmert sie sie den Körpern ein, läßt sie in die Verhaltensweisen gleiten, macht sie zu einem Klassierungs- und Erkennungsprinzip und konstituiert sie als Daseinsberechtigung und natürliche Ordnung der Unordnung“. Keineswegs aber, so Foucault, handle es sich um eine Ausschließung jener abweichenden Sexualitäten vor, sondern vielmehr um eine Spezifizierung im Sinne einer Lokalisierung und Verdichtung einer jeden: „Wenn man sie ausstreut, so geht es darum, das Wirkliche mit ihnen zu durchsäen und sie dem Individuum einzukörpern“ (Foucault 1983, S. 48). Es ist mithin kein Apparat der Unterdrückung, nach dem die Entfaltung dieser Machtform verlangt; sie verlangt „konstante, aufmerksame und wißbegierige Präsenzen“. Mittels eingehender Prüfung und Beobachtung profiliert die Macht gleichsam, was sie zu finden sucht, die Abweichung: „der Blick fixiert sie, die Aufmerksamkeit isoliert und beseelt sie“ (Foucault 1983, S. 48 f. [Hervorhebung des Verf.]).7

Die Macht der Psychiatrie wäre allerdings überschätzt, ginge man davon aus, sie allein könnte, frei über ihre Subjekte verfügend, ihren Diskurs durchsetzen. Nicht also „von oben“ kann der „Geständnisdiskurs“ durchgesetzt werden, sondern „von unten, als geforderte, willfährige Rede, die unter gebieterischem Zwang die Siegel der Zurückhaltung und des Vergessens sprengt“ (Foucault 1983, S. 66). Hinsichtlich der „immanenten Machtstruktur“ dieses Diskurses spricht Foucault von einem „Doppelimpulsmechanismus“:

„Lust und Macht. Lust, eine Macht auszuüben, die ausfragt, überwacht, belauert, erspäht, durchwühlt, betastet, an den Tag bringt; und auf der anderen Seite eine Lust, die sich daran entzündet, dieser Macht entrinnen zu müssen, sie zu fliehen, zu täuschen oder lächerlich zu machen. Macht, die sich von der Lust, der sie nachstellt, überwältigen läßt; und ihr gegenüber eine Macht, die ihre Bestätigung in der Lust, sich zu zeigen, einen Skandal auszulösen oder Widerstand zu leisten, findet“ (Foucault 1983, S. 49).

Die eigentümliche Dynamik dieser „unaufhörlichen Spiralen der Macht und der Lust“ hat also einerseits den angesprochenen Mechanismen der Einkörperung erlaubt, ein Gebiet der Perversionen zu umreißen und eine Vielzahl von pathologisierenden Diskursen über die Homosexualität zu stiften; sie ermöglicht im gleichen Moment aber auch die Konstitution dessen, was Foucault „Gegen-Diskurse“ nennt: „die Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen, auf ihre Rechtmäßigkeit oder auf ihre ‚Nützlichkeit‘ zu pochen – und dies häufig in dem Vokabular und in den Kategorien, mit denen sie medizinisch disqualifiziert wurde“ (Foucault 1983, S. 101).8 Ein Diskurs der medizinisch-psychiatrischen Disqualifizierung hier, ein Diskurs der Selbstbehauptung und Legitimation dort. Und zurecht weist Foucault uns darauf hin, dass Gegen-Diskurse nie aus dem Nichts entstehen, dass sie vielmehr in ebendem verankert sind und bleiben, wovon sie sich abzusetzen suchen. Folglich mögen auch die Gegen-Diskurse zumindest einen gewissen Anteil an der Verbreitung des psychiatrischen Vokabulars gehabt haben. – Doch, so muss man an diesem Punkt fragen, ist dies schon ausreichend, um einen homophoben Blick samt entsprechendem Diskurs in die soziale und kulturelle Ordnung einer Gesellschaft einzuschreiben und somit nicht allein in einer wissenschaftlichen Disziplin zu verankern?

Anders gefragt: Was macht den gesellschaftlichen Boden so fruchtbar für die Aussaat eines Diskurses mit „wissenschaftlichem Anspruch“, der die Homosexualität pathologisiert und sie mit dem Stigma der Abweichung brandmarkt? Eribon, der diese Frage ebenfalls an die Foucault’sche Geschichtsschreibung richtet, verweist zu deren Beantwortung auf Bourdieu: Liest man nämlich die Stigmatisierung und Ausgrenzung der Homosexualität als einen Akt symbolischer Gewalt, so fügt sich dieser Akt in das Paradigma „männlicher Herrschaft“ (Bourdieu 2012).9 Es sei noch einmal daran erinnert: Foucault zufolge wurde die Homosexualität in der Stunde ihrer Erfindung als eine „Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen“ charakterisiert, als eine Art „innerer Androgynie“ und „Hermaphrodismus der Seele“ (Foucault 1983, S. 47). Und auf die Norm der heterosexuellen Männlichkeit bezogen, kann der Homosexuelle als „Invertierter“ folglich nur auf der Seite des „Weiblichen“ verortet und somit gleichfalls der Gewalt des (heterosexuellen) „Männlichen“ unterworfen werden.10

Indem sie sich in diese Konstellation einschreibt, wird die „wissenschaftliche“ Stigmatisierung der Homosexualität sozial wie kulturell evident und unhinterfragbar, sofern sie von der allgemeinen doxa getragen wird, der fraglosen Übereinstimmung mit jener herrschaftsförmigen Einrichtung der Gesellschaft. In gewisser Weise korrespondiert so der Einkörperung der durch den psychiatrischen Diskurs erfundenen Perversionen eine habituelle Inkorporierung, in deren Folge die stigmatisierende Klassifizierung der Homosexualität im Vergleich zur Heterosexualität gleichsam zur „Natur“ wird. In den entsprechenden Denk-, Sprech-, Seh- und Handlungsweisen schlägt sich denn auch die männliche Herrschaft als Herrschaft der männlichen Heterosexualität über die männliche Homosexualität nieder.

Letztendlich ist es nur konsequent, in der Beschreibung dieser Prozesse immer wieder auf das Wort „Gewalt“ zurückzugreifen, mag man diese, je nach Perspektive und Fragestellung, auch als epistemisch oder diskursiv, symbolisch oder sozial spezifizieren. Entscheidend ist der Beitrag, den sie leistet, einen Horizont der Feindseligkeit einzurichten, für all jene, die sich in den beschriebenen Konstellationen in der Position der Unterworfenen wiederfinden, der Stigmatisierten und sozial wie kulturell Diffamierten. Mögen diese Machtverhältnisse sich auch noch so sehr verschleiern, indem sie sich den Anstrich des Natürlichen geben – in Vergessenheit geraten sie nicht. Dafür tragen die zahlreichen Ordnungsrufe Sorge, die eine Gesellschaft an ihre Mitglieder ergehen lässt, um die Norm, auf der sie gebaut ist, zu erhalten. Der Blick und die Beleidigung sind zuverlässige Bestandteile ihres Repertoires.

 

4. Eribon – Heimsuchung des homosexuellen In-der-Welt-seins

4.1. Blick und Beleidigung

Bekanntlich unternimmt Eribon durch seine Rückkehr nach Reims den Versuch einer Proust’schen Erinnerungsarbeit, das heißt den Versuch, eine verlorene Vergangenheit einzuholen, und zwar die des Arbeiterkindes, das er gewesen ist und als welches er sich vergessen wollte, nicht die des schwulen Kindes (Eribon 2016, S. 26, 28; Eribon 2018b, S. 52 f.). Gleichwohl gibt er seinem Schwul-werden in dieser Herkunftserzählung Raum, wo er sich den Jahren seiner Jugend zuwendet, war Reims doch nicht nur der Ort familiärer und also sozialer Bindung, sondern auch der Ort, an dem er seine Homosexualität entdeckte und sich daran machte, ein schwules Leben zu ersinnen und zu führen. Und so wurde Reims denn auch zur „Stadt der Beleidigung“ (Eribon 2016, S. 191).

Für den jungen Homosexuellen ist sein Daseinsvollzug nicht vom Akt der stigmatisierenden Kategorisierung, von der Beleidigung zu trennen: „Das In-der-Welt-Sein aktualisiert sich in einem Beschimpftwerden und damit in einer Inferiorisierung, deren Medium der Blick und der Diskurs der Gesellschaft sind“ (Eribon 2016, S. 198). Der Blick und die Beleidigung sind insofern in einem Atemzug zu nennen, als sie beide Formen sozialer Urteilssprüche darstellen, als sie die von ihnen getroffenen Personen zu einer beschädigten, weil stigmatisierten Identität verurteilen. Die Gewalt der Beleidigung – wie auch die des Blicks – ist demnach vor allem anderen eine definitorische Verfügungsgewalt: „Ich entdecke, dass ich jemand bin, zu dem man dies und jenes sagen kann, jemand, der Objekt von Blicken, Diskursen ist und der von diesen Blicken und diesen Diskursen stigmatisiert wird“11. Auf diese Weise ereignet sich die unfreiwillige (und also gewaltförmige) Begegnung mit sich selbst: man eignet sich eine Wahrheit seiner selbst an, doch gibt man sie sich nicht selbst, man wird von einem anderen zu ihr verurteilt.12

Ein schwules Leben zu führen, bedeutet mithin, sich zu jeder Zeit innerhalb eines Horizonts von Feindseligkeit zu bewegen, den Blick und Beleidigung nebst weiteren Modulationen des Urteils aufspannen (Eribon 2019a, S. 72 f.). Die Sichtbarkeit dieses Lebens ist, was es bedroht, weil sie es benennbar macht und so der Gewalt aussetzt. Es überrascht also keineswegs, dass das homosexuelle In-der-Welt-sein wesentlich durch eine Beziehung zum Geheimnis gekennzeichnet ist. Eine Anekdote, die Eribon in Rückkehr nach Reims teilt, mag dies verdeutlichen:

Im Alter von 16, 17 Jahren kommt Eribon zu einem Ferienjob in einer Versicherungsfirma, wo er erlebt, wie die Sexualität eines Abteilungsleiters zum Thema im Kollegium wird: „Eine Mitarbeiterin macht sich hinter dem Rücken des Abteilungsleiters über ihn lustig: ‚Das ist eine Tata! Wenn du abends am Theater vorbeigehst, kannst du beobachten, wie er Typen anbaggert.‘“ Es handelt sich bei diesem Abteilungsleiter um einen „heimlichen Schwulen“, in dessen Gebaren sich „Formen einer zwiespältigen Anziehung und Abstoßung“ zu erkennen geben, die sich in der Neigung ausdrücken, „zwanghaft und ostentativ, zugleich aber auf geringschätzige oder sogar angeekelte Weise von Homosexualität zu sprechen“. Für den jungen Eribon hält diese Szene jedoch auch eine aufregende Neuigkeit bereit: tatsächlich gibt es Orte schwuler Geselligkeit, Orte zum Cruisen. „Sofort war ich von dem Wunsch besessen, dort hinzugehen und zu schauen, was passiert, vielleicht jemanden kennenzulernen – und von der Angst, dort gesehen zu werden und anschließend als tata zu gelten.“ Die Neugier veranlasst ihn bald schon zu ersten vorsichtigen Erkundungen, die sich, wenn auch recht ereignislos, doch als eine Art Initiation, als Eintritt in die schwule Welt eingeprägt haben. Die Ambivalenz, die Eribon bereits vor diesen ersten Abenteuern empfindet, sollte sich jedoch wenig später bestätigen:

„In den Tagen nach meinem ‚ersten Mal‘ fragte mich die Angestellte, dank der ich von diesem Ort erfahren hatte und der offensichtlich nichts von dem entging, was dort geschah, in halb ironischem, halb interessiertem Ton: ‚Hab ich dich nicht gestern beim Theater gesehen? Warst wohl zum Anbandeln da?‘ Ich erfand irgendeine Ausrede (ein Freund von mir wohne dort in der Nähe), konnte meine Verlegenheit aber kaum verbergen. Sie hatte mich zugeordnet.

Ein Urteil wird gesprochen und die Beziehung zwischen Eribon und seiner Kollegin bleibt davon nicht unberührt:

„Zwischen uns entstand eine seltsame Beziehung, die sowohl von Misstrauen als auch von einer unsicheren Komplizenschaft geprägt war: Sie wusste, dass ich wusste, dass sie wusste, wer ich war usw. Ich hatte Angst, sie könne anderen davon erzählen – was sie sich zweifellos auch nicht nehmen ließ –, und sie kitzelte dieses Angstgefühl mit ihren Anspielungen, von denen ich hoffte, dass sie außer mir niemand verstand“ (Eribon 2016, S. 201-203 [Hervorhebung des Verf.]).

Was diese Anekdote in Szene setzt, ließe sich mit Eve Kosofsky Sedgwick (1990, S. 213-252) als „Spectacle of the Closet“ beschreiben, als ein Schauspiel, das, um das (offene) Geheimnis der Homosexualität kreisend, in Form einer asymmetrischen Machtbeziehung sich entfaltet.13 Die heterosexuelle Angestellte weiß um das Geheimnis des Abteilungsleiters und sie weiß um die Angst, mit der es geschützt wird. Dieses Privileg bestünde fort, würde sich der Abteilungsleiter zu einem coming out entschließen, sofern die Heterosexuelle, die ein coming out nicht nötig hat, dessen Notwendigkeit in Zweifel ziehen würde und es gar ignorieren könnte (vgl. Eribon 2019a, S. 86). Was Eribon in seinen Betrachtungen zur Schwulenfrage hinsichtlich dieser Konstellation schreibt, liest sich wie ein Kommentar zu den Erlebnissen, die er in Rückkehr nach Reims geschildert hat: „Ein unüberwindbares Paradox: Der Schwule, der zu sprechen beschließt, setzt sich einem ironischen oder herablassenden Kommentar und manchmal einer Abfuhr aus, und derjenige, der vorzieht zu schweigen, begibt sich in eine schiefe und in jedem Fall abhängige Lage“ (Eribon 2019a, S. 88).

Man kann sich vorstellen, wie der junge Eribon die Effekte dieses Machtgefälles erlebt haben muss. Einmal erkannt und benannt, wird sich die Ambivalenz, die er hinsichtlich seiner ersten Erkundungen der Welt schwuler Geselligkeit verspürt hatte, noch verschärft haben. Vielleicht hat er die Notwendigkeit, dieses Sein, auf das ihn der Blick und die Rede seiner Kollegin festgeschrieben haben, zu verbergen, als noch dringlicher empfunden; seine Gesten noch gewissenhafter kontrolliert, seinen Handlungen noch größere Vorsicht auferlegt. Wahrscheinlich fand sich die Euphorie seiner Entdeckung gedämpft.

Der Blick seiner Kollegin – der ein homophober Blick ist, das sollte die Anekdote hinreichend veranschaulicht haben, denn er artikuliert ein entsprechendes Urteil – hat den jungen Homosexuellen mit einiger Sicherheit auf viele weitere nächtliche Ausflüge begleitet, und zwar als „Grenze [s]einer Freiheit“ (Sartre 1993, S. 472). Wenn er es auch nicht explizit ausspricht, so weiß Sartre doch sehr genau, dass der Blick etwas mit Macht zu tun hat: „Ich erfasse den Blick des andern gerade innerhalb meiner Handlung als Verhärtung und Entfremdung meiner Möglichkeiten“ (Sartre 1993, S. 474). Die eigene Freiheit, zu handeln, findet sich im Blick des Anderen immer schon überschritten. Und nicht nur das, auch das Selbstverhältnis der erblickten Person findet sich durch den Blick grundlegend affiziert: „Ich, der ich, insofern ich meine Möglichkeiten bin, das bin, was ich nicht bin, und nicht das bin, was ich bin, jetzt bin ich also jemand“ (Sartre 1993, S. 475 [Hervorhebung des Verf.]). Im Blick und durch den Blick seiner Kollegin ist Eribon auf eine Identität festgeschrieben, auf eine objekthafte Sichselbstgleichheit – auf ein Sein, dessen er sich in den Augen jener anderen zu schämen hat: „Ich bin ein Produkt der Beschimpfung. Ein Sohn der Schande“ (Eribon 2016, S. 194).

Erlebnisse dieser Art prägen die Koordinaten des homosexuellen In-der-Welt-seins auf tiefgreifende Weise. So schlägt es sich nieder in Form von Zwängen des Verbergens, Anstrengungen des Verheimlichens, der unablässigen Selbstkontrolle vor allem im öffentlichen Raum und einer geradezu scheuen, gespaltenen Lebensführung. Doch können all diese Maßnahmen – die nichts Anderes sind als die von Sartre angesprochene Entfremdung von Möglichkeiten – dem Geheimnis, das man mit sich trägt, seine Last nicht nehmen. Denn wenn das Für-Andere-sein „ständiges Faktum“ menschlicher Realität ist und die anderen „ursprünglich anwesend“ sind, dann sind es auch deren Blicke, die man mit jedem Gedanken auf sich spürt, den man sich über sich selbst macht (Sartre 1993, S. 501 f.). In diesem Sinne ist das Urteil immer schon gesprochen und die präexistente stigmatisierende Kategorie wartet nur darauf, einen aufzunehmen, so wie das Gericht in Kafkas Proceß Josef K. aufnimmt, nicht um ein Urteil zu fällen (denn dies geschah bereits vor dem ersten Satz des Romanfragments), sondern um es zu vollstrecken.

Man muss von einer regelrechten Heimsuchung des homosexuellen In-der-Welt-seins durch die Scham sprechen, die in dem Erleben gründet, die Scham sei „nichts als Wiederholung und Akkumulation“, in dem Eindruck, dass sie geradezu insistiert und „dass es nie aufhören wird, dass die Scham zu immer mehr Scham führen wird“ (Ernaux 2020, S. 109, 54). Auf diesem Wege totalisiert sich die Erfahrung, als Subjekt der Scham unterworfen zu sein, zu einer hontologischen Realität, deren „letzte Wahrheit“ die Scham ist (Ernaux 2020, S. 105). So wie der Blick die Identität der Erblickten formt, so formen die Blicke aller die hontologische Realität, die sie erleben, ratifizieren und reproduzieren sie deren hierarchisierte Ordnung. Eribons Erinnerungen veranschaulichen auf eindrückliche Weise, wie man sich von diesen Blicken und allgemein der homophoben Stimmung, die sie artikulieren helfen, regelrecht „umzingelt“ fühlen kann (Eribon 2016, S. 211). Insofern könnte man die hontologische auch als eine panoptische Realität bezeichnen: Blicke überall – alles wird gesehen. Die Wirkung dieser „Überwachung“ dringt tief in das Innenleben der Erblickten: Hatte Foucault in Überwachen und Strafen (1993) die „Seele“ selbst noch als ein Stück Herrschaft begriffen, da sie nicht nur das Objekt der Disziplinierung sei, sondern mehr noch deren Effekt, so lässt sich diese Perspektive auf die „Seele“ des Homosexuellen übertragen, denn auch sie ist gewissermaßen Produkt einer Unterwerfung.14 So kann auch sie eine Art „Gefängnis“ sein: Dies zeigen all die angesprochenen Maßnahmen zur Disziplinierung des öffentlichen Auftretens und Verhaltens, die das Ziel haben, dem Ruf zur Ordnung zu entsprechen. Und dies zeigt die gleichsam vorauseilende Unterwerfung unter das Regime der Norm, das heißt die Tatsache, dass die Scham dem Blick oftmals vorausgeht, ihn antizipiert, weil sie ihn fürchtet und ihn deshalb vorwegnimmt (Eribon 2018a, S. 89).

Es ist also offensichtlich, dass der Blick und die Beleidigung sich in ihrer Einflussnahme nicht lediglich auf einen äußeren Horizont beschränken. Die Kräfte der Unterwerfung kolonisieren nicht allein den Körper, sie versuchen zugleich sich die Seele dienstbar zu machen: „Sie schaffen auch innere Widersprüche, zu denen die Schwierigkeiten gehören, die ein Schwuler bewältigen muss, um sich als solchen zu bejahen, das heißt zu akzeptieren, sich mit anderen Schwulen zu identifizieren oder identifiziert zu werden“ (Eribon 2019a, S. 108).15

 

4.2. Das coming out als Wahl seiner selbst

Und doch. Allen Ordnungsrufen zum Trotz, gegen die Strafe der Abjektion, die auf deren Missachtung steht, ergreifen diejenigen, die erblickt, unterworfen und stigmatisiert werden, immer wieder das Wort, um zu sagen, wer und was sie sind. Das coming out bezeichnet folglich einen wegweisenden Moment schwulen Lebens, in gewisser Weise verkörpert es die Geste, die dieses Leben eröffnet, sofern es kein im Verborgenen geführtes Leben sein soll, sondern ein öffentliches, auf das man sich berufen kann und auch aktiv beruft.

Gewiss, die Frage, ob man das Wort ergreifen und von sich sprechen soll, ist eine, die zu beantworten keineswegs leichtfällt. Aus dem Versteck hervorzutreten, bedeutet schließlich, sich dem Blick des Anderen, mithin der Möglichkeit eines vernichtenden Urteils auszusetzen. In diesem Sinne ließe sich das coming out als eine Art Geständnis begreifen, das sich, wie Foucault zeigt, innerhalb eines Machtverhältnisses vollzieht, „denn niemand leistet sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist“, das heißt jemandem, der zuhört, „um zu richten, zu strafen, zu vergeben, zu trösten oder zu versöhnen“ (Foucault 1983, S. 65). Zugleich aber verweist das coming out auf Foucaults Gedanken zum Gegen-Diskurs: Es geht darum, das Wort zu ergreifen, um sich zum Subjekt des eigenen Diskurses zu erheben und nicht länger bloß Objekt des Blicks des Anderen zu sein. Es geht, mit anderen Worten, darum, ein spezifisch homosexuelles Sprechen (von sich) zu stiften, das dem monotonen Diskurs der Ordnung opponiert.

Folgt man diesem zweiten Gedanken, so erscheint das coming out weniger als weiteres Element eines umfassenden Apparates der Selbstgeißelung; stattdessen gibt sich in ihm eine Geste der Entunterwerfung zu erkennen, die sich gegen die Entfremdung der eigenen Möglichkeiten, gegen die Beschneidung der eigenen Freiheitsräume richtet. Als Geste des Sich-zu-sich-Bekennens lässt sich das coming out, wie Eribon gezeigt hat (2019, S. 161 ff.), als eine „Wahl seiner selbst“ im Sartre‘schen Sinne begreifen. Eine solche Wahl zu treffen, bedeutet in erster Linie, sich gegen die Macht und die Gewalt bestehender (sozialer, sexueller, …) Verhältnisse zu richten – sie ist auf Emanzipation aus (Sartre 2000, S. 146 f.). Sich zu wählen, bedeutet darüber hinaus aber auch, sich in die Zukunft zu entwerfen und gemäß diesem Entwurf seiner selbst handelnd zu erschaffen.

Ohne Weiteres lässt sich ein solcher Entwurf freilich nicht durchsetzen, es bedarf dazu eines ausgeprägten Veränderungswillens ebenso wie transformatorischer Kraft. Doch kann ebendiese Kraft, so überraschend es auch sein mag, aus der Scham selbst bezogen werden: Scham bezeugt ein Machtverhältnis, sie resultiert aus der Unterwerfung unter ein stigmatisierendes Urteil. Spürbar wird diese Unterwerfung für ihre Subjekte in Form von Schmach und Schande, die sich der „Seele“ tief einprägen; die Kraft, die dieses „Gefängnis“ führt, ist eine der Unterdrückung. Nun schreibt allerdings Foucault in Bezug auf derartige Machtbeziehungen in Der Wille zum Wissen: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht“ (Foucault 1983, S. 90). Gerade im Niederschlag der Macht liegt daher die Möglichkeit zur Gegenwehr begründet. Diesem auf den relationalen Charakter der Machtverhältnisse zurückgehenden Umstand verdankt sich die Chance, die mit der Scham auftretenden affektiven Kräfte für die Entunterwerfung mobilisieren zu können.16

Wie diese machtanalytischen Überlegungen nahelegen, kann die Entunterwerfung jedoch nicht einfach in der Verwerfung des Urteils und der Identität bestehen, zu der man qua Blick verurteilt wurde. Sich selbst zu wählen, bedeutet hier vielmehr, diese zugewiesene Identität anzunehmen, sich mit ihr zu identifizieren, und zwar um sie zu überschreiten. Auf eindrückliche Weise erinnert sich Eribon in seiner Rückkehr nach Reims dieses für sein weiteres Leben entscheidenden Augenblicks:

„Es ging für mich in dieser Zeit darum, endlich zu dem zu stehen, was ich war, und dazu gehörte natürlich auch, dass ich mir all das aneignen musste, worauf mich ein feindseliges Umfeld ständig festzuschreiben versuchte. Es anzunehmen und mich darauf zu berufen, das hat für mich alles, oder jedenfalls sehr viel, verändert“ (Eribon 2016, S. 216).17

Es ist dieser Entschluss, der am Beginn einer geduldigen Arbeit steht, die sich anschickt, „aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit heraus[zu]lösen, nicht mehr das zu ein, zu tun oder zu denken, was wir sind tun oder denken“. Nicht die Kraft der Unterdrückung „beseelt“ diese Arbeit, sie gründet in der „Ungeduld der Freiheit“ (Foucault 2007b, S. 186, 190).

Ist der entscheidende Schritt einmal getan, wird dieser Prozess nicht selten von einem „Glück der Konversion“ begleitet, einem Gefühl der Erleichterung, da die Fesseln der Selbstkontrolle endlich abgeworfen sind und man nicht länger auf die „reine Innerlichkeit“ des Geheimnisses verpflichtet ist. Gleichwohl darf aber nicht unterschlagen werden, dass er auch ein „Wagnis“ darstellt: Denn wer eine Neuformulierung der Identität jenseits der heteronormativen Urteile der Gesellschaft anstrebt, der setzt sich auch der Frage aus: „Wer oder was wird hier Subjekt sein, und was wird als Leben zählen?“ (Butler 2013, S. 246). Die Notwendigkeit, sich dieser Frage stellen zu müssen, wurzelt darin, dass keine „fertige“ schwule Identität, kein „fertiges“ Ich für jene bereitliegt, die sich im Rahmen eines coming out von all den psychologischen, medizinischen, rechtlichen Inhalten befreien, die gesellschaftlich das konstituieren und definieren, was man gemeinhin unter Homosexualität versteht (und zu verstehen hat). Es scheint daher treffend, wenn Eribon unter Verweis auf Sartre bemerkt, beim Homosexuellen gehe die Existenz der Essenz voraus. Sofern er seine Identität wählt, das heißt sie handelnd schafft, ist er aus sich heraus erst einmal nichts: „Er wird erst dann, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird“ (Sartre 2000, S. 149).18

Wie der Widerstand gegen die Macht, wie der Gegen-Diskurs der Homosexuellen seit dem 19. Jahrhundert, so entsteht also auch die gewählte schwule Identität nicht aus dem Nichts. Sie ist einerseits verankert in dem, wovon sie sich in einer kritischen Geste des Abstandnehmens absetzt. Und andererseits schreibt sie sich in ein kulturelles Erbe ein, gewinnt sie Kontur, indem sie sich eine Geschichte gibt und zu Vorgänger:innen bekennt, die mögliche Fluchtlinien jenseits der Norm vorgezeichnet und vorgelebt haben. Es ist vor allem diese Art der Erinnerungsarbeit als einer Form der „Gedächtnispolitik“, die es erlaubt, das Stigma einer „abweichenden“ Sexualität affirmativ zu wenden und „voller Stolz die Merkmale für sich zu reklamieren, die den anderen als ein Ausweis ihrer ‚Minderwertigkeit‘ oder ‚Schande‘ gelten“ (Eribon 2017, S. 235). Ein schwules Leben zu führen und Teil einer schwulen Welt zu werden, das bedeutet demnach insbesondere, sich eine spezifische Ideen- und Kulturgeschichte zu erschließen, „die Modelle und Vorstellungen zur Verfügung stellt, Wörter und Affekte, und die der Fähigkeit zu handeln und dem Willen zur Autonomie Stützpunkte liefert, deren sie zu ihrer Entwicklung bedürfen“ (Eribon 2019a, S. 12). So vielgestaltig die Formen der Überlieferung sind, so plural sind die Identitäten, die unter Rückgriff auf jene erfunden werden. So gesehen ist die im Zuge des coming out unternommene Reformulierung der eigenen Identität weniger individuell als vielmehr kollektiv: „Die kollektive Selbsterschaffung ist nicht vorhersehbar, sie entfaltet sich im Register der Mannigfaltigkeit. Sie eröffnet der Geschichte den Raum der Freiheit“ (Eribon 2019a, S. 168).

 

5. Für eine Ethik der Großzügigkeit

Man sieht: Das coming out, als eine Geste der Entunterwerfung gelesen, verleiht einem gleichsam Foucault’schen Willen Ausdruck, nicht derart und nicht für das, was man ist, verurteilt zu werden. Nicht als schicksalhafte Evidenz annehmen zu wollen, was die Autorität einer gesellschaftlichen Norm als die Wahrheit ansagt, die man in sich selbst und die andere in einem zu erkennen haben. Insofern ließe es sich vielleicht als Element einer Kunst, nicht dermaßen verurteilt und unterworfen zu werden, verstehen (vgl. Foucault 1992, S. 11, 14).

Anders als bei Sartre (1993, S. 517) wird die Gewalt des Blicks also nicht ihrerseits mit Gewalt beantwortet: In Das Sein und das Nichts vertritt Sartre die Auffassung, die erblickte Person könne ihre Freiheit nur wiedererlangen, indem sie den Versuch unternimmt, die Richtung des Verhältnisses umzukehren und die blickende Person zum Objekt des eigenen Blicks zu machen, sie zu verdinglichen und der Scham zu unterwerfen. Was die widerständige Geste des coming out der Verfügungsgewalt des Blicks indes entgegensetzt, ist die Sichtbarkeit.19

Vielleicht gründet, wie Foucault in verschiedenen Interviews aus den frühen 80er Jahren nahelegt, gerade in dieser Sichtbarkeit die Homophobie, die Angst vor der Homosexualität: Nicht so sehr die (ohnehin in den Raum des Privaten gebannten) homosexuellen Praktiken seien Gegenstand dieser Angst. Problematisch sei unserer Gesellschaft vielmehr die „Existenzfrage“, die sich mit jener Sichtbarkeit stellt, zielt sie doch auf

„alles möglicherweise Beunruhigende an der Zuneigung, Zärtlichkeit, Freundschaft, Treue und Kameradschaft, denen eine recht zusammengewürfelte Gesellschaft keinen Raum geben kann, ohne die Entstehung von Verbindungen befürchten zu müssen, die unvorhergesehenen Kraftlinien folgen“ (Foucault 2007c, S. 69 f.).

Von einer solchen Vielfalt von Widerstandspunkten im Netz der Machtbeziehungen hatte Foucault bereits fünf Jahre zuvor in seinem Willen zum Wissen geschrieben (Foucault 1983, S. 96); nunmehr konkretisiert er diese Gedanken und fasst sie zur Idee der Erfindung neuer Lebensformen, Beziehungen und Existenzweisen:

„Homosexualität ist eine historische Gelegenheit, Beziehungs- und Gefühlsmöglichkeiten neuerlich zu eröffnen, und zwar nicht so sehr wegen bestimmter innerer Eigenschaften der Homosexualität, sondern weil die Diagonalen, die jemand, der ‚quer‘ zum sozialen Geflecht steht, darin ziehen kann, solche Möglichkeiten sichtbar zu machen vermögen“ (Foucault 2007c, S. 72).

Diese Perspektive macht verständlich, wie Foucault zu der Auffassung gelangen kann, die Homosexualität sei „keine Form des Begehrens, sondern etwas Begehrenswertes“, dass es für uns darauf ankomme, „Homosexuelle zu werden, statt hartnäckig erkennen zu wollen, dass wir homosexuell sind“ (Foucault 2007c, S. 68). Sich an die kreative, erfindungsreiche Beantwortung jener „Existenzfrage“ zu wagen, die sich uns mit der Homosexualität stellt, bedeutet im Grunde nichts anderes, als Einspruch einzulegen: gegen die zugleich aufgezwungenen und abgewerteten Identitäten, gegen die Verknappung und Verarmung zwischenmenschlicher Beziehungen, ganz allgemein gegen die Schließung menschlicher Möglichkeiten. Ein Protest gegen die Evidenz dessen, was ist, und ein Bruch mit der regierenden doxa, von dem Foucault weiß, dass er über die engen Grenzen dessen, was Homosexualität genannt wird, hinausweist: „Wenn wir ein Recht auf neue Beziehungen proklamieren, werden auch Nicht-Homosexuelle ihr Leben durch Veränderung ihrer Beziehungsschemata bereichern können“ (Foucault 2005c, S. 372).

Insofern ist die entscheidende Frage vielleicht weniger eine der Sexualität im engen Sinne als grundsätzlicher eine der Haltung, des gelingenden Lebens in Sorge um sich und die anderen. Nicht umsonst hat Foucault mit Nachdruck darauf bestanden, dass die Erfindung neuer Lebensformen auch eine Ethik hervorbringen kann (Foucault 2007c, S. 71). Eribon, der sich diesen Gedanken zu eigen macht, hat versucht, die Grundzüge einer solchen Ethik zu umreißen:

„Es steht niemandem von uns zu, darüber zu entscheiden, was für die Anderen in [ihren] Angelegenheiten wünschenswert ist. Und es ist die Aufgabe von uns allen, das, was von den Anderen für wünschenswert erachtet wird, möglich und zugänglich zu machen. Es geht also darum, die Grenzen auszulöschen, die den Individuen den Zugang zu dem, was sie sein wollen, verwehren und sie weiterhin nicht nur von dem ausschließen, was bereits existiert […], sondern auch von all dem, was noch nicht existiert und was von nun an möglich scheint oder eines Tages möglich scheinen wird, ohne dass sie es vorhersehen hätten können“ (Eribon 2018d, S. 209).

Man könne diese Ethik queer nennen oder auch demokratisch, so Eribon. Er nennt sie eine „Ethik der Großzügigkeit“.

 


1 Ich beziehe mich hier und im Folgenden durchgehend auf die männliche Homosexualität, auf ein schwules In-der-Welt-sein. Diese Fokussierung verdankt sich zum einen der Wahl Foucaults und Eribons als wichtigsten Referenzautoren: Beide äußern sich in ihren theoretischen Arbeiten gezielt zur männlichen Homosexualität, was auch darin begründet liegen mag, dass persönliche existentielle Erfahrungen hier wie dort das intellektuelle Projekt prägen. So hat Foucault bekanntlich mehrfach betont, seine Werke seien als „Fragmente einer Autobiographie“ (Foucault 2005b, S. 223) zu lesen, während Eribon seine Betrachtungen zur Schwulenfrage als eine „zur historischen und theoretischen Analyse geformte Autobiografie“ (Eribon 2016, S. 20) bezeichnet hat. Zum anderen verfügt die weibliche Homosexualität über eine eigene Ideengeschichte, Kultur (mit ihren spezifischen Weisen der Tradierung, Sozialisation und Subjektivierung) und subkulturelle Geschichte. Entsprechend bedürfte und verdiente die Frage nach dem Verhältnis weiblicher Homosexualität zum Blick, nach lesbischer sexueller Scham eine gesonderte Untersuchung.

2 Im Licht dieser Erkenntnis wird dann auch verständlicher, warum Sartre seine Ausführungen über das Problem der Existenz Anderer (und noch bevor dieses Problem als solches dargelegt wird) mit einem kurzen Abriss zur Scham beginnt, heißt es doch „die Scham [sei] sich seiner vor Anderen schämen, diese beiden Strukturen sind untrennbar“ (Sartre 1993, S. 407). Diese sich in der Phänomenologie der Scham ausdrückende Gewissheit über Existenz eines Anderen wird von Sartre anschließend auf dem Wege einer ontologischen Problematisierung des Phänomens des Blicks theoretisch gleichzeitig eingeholt und gesättigt.

3 Und mit Foucault wäre zu ergänzen: Auf eine Identität festgeschrieben, zu einer Identität verurteilt zu sein – dieser Akt der Unterwerfung geht auf eine Machtform zurück, die dem „unmittelbaren Alltagsleben [gilt], das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben“ (ebd.). Dieser Machtform wird der Blick als Urteil als Instrument dienstbar gemacht.

4 Man könnte also, Honneths Wendung variierend, von einer „Gleichursprünglichkeit von Erkenntnis und Unterwerfung“ sprechen und so die entscheidenden Momente für eine kritische Analyse der Unterwerfung als Subjekt der Scham durch den Blick markieren. Es sei allerdings noch einmal darauf hingewiesen, dass damit keine Entsprechung zwischen dem Sartre’schen Begriffspaar von Anerkennung und Verdinglichung und jenem, das hier für eine Problematisierung im Sinne Eribons mobilisiert wird, behauptet wird oder werden kann.

5 Hieran erweist sich eine der zentralen Einsichten der Foucault’schen Analytik der Macht, nämlich „daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehungen gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“ (Foucault 1993, S. 39).

6 Wie Eribon (2019, S. 408) hinzufügt, ist die Geburtsstunde der modernen „Homosexualität“ somit an genau diese Verschiebung von den Praktiken oder Handlungen zur Frage der Persönlichkeit und der sexuellen Orientierung gebunden – und damit an eine Ausweitung des Bedeutungsgehaltes des „Pathologischen“. Unnötig hinzuzufügen, dass der allgemeine Zwang, alles sagen zu müssen, sich derart noch verschärft.

7 Zugegebenermaßen ist der Status des „Blicks der Psychiatrie“ nicht eben eindeutig. Es handelt sich nicht um eine phänomenologische Charakterisierung im engen Sinne, etwa nach dem Vorbild Sartres. Gleichwohl ist die Rede vom Blick der Psychiatrie nicht rein metaphorisch (wenn auch Foucaults Prosa zuweilen in diese Richtung spielt). Es geht um einen Blick, der den Körper der Verdächtigen nach dem Geheimnis ihrer Sexualität absucht, das dort geschrieben steht und sich immerfort verrät; ein Blick der die Psyche ausspäht, auf der Suche nach den Anzeichen einer Perversion der sexuellen Orientierung. Letztlich vielleicht ein „beredter“ Blick, der, ist das verdächtige Subjekt einmal zum Sprechen gebracht, dessen Geständnis – das heißt seine Wünsche, Begierden und Träume ebenso wie seine gesamte Kindheit und Vergangenheit – als einen Text vor sich ausgebreitet sieht, bereit, die Enthüllung des Geständnisses unter Einsatz seiner hermeneutischen Verfügungsgewalt zu verdoppeln. Das Urteil, welches dieser Blick als „Herr der Wahrheit“ (Foucault 1983, S. 70) spricht, es schlägt sich nieder als Diagnose.

8 Im Sinne Foucaults wären diese homosexuellen Weisen, von sich zu sprechen, den disqualifizierenden Diskursen der Psychiatrie nicht einfach negativ: Dieser Gegen-Diskurs „befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam“ (Foucault 1983, S. 100).

9 Vgl. insbesondere den Anhang „Einige Fragen zur Schwulen- und Lesbenbewegung“, S. 201 ff.

10 Zur Frage der Verstetigung und fortgesetzten Aktualisierung dieser Vorstellung der Inversion im Rahmen des psychiatrisch-psychoanalytischen Diskurses bis in unsere Tage vgl. das Kapitel „Inversionen“ in Eribons Betrachtungen zur Schwulenfrage (2019, S. 122-133).

11 Man denke an Sartre, wenn Eribon weiterschreibt: „Die ‚Benennung‘ produziert eine Bewusstwerdung seiner selbst als eines ‚Anderen‘, den andere zum ‚Objekt‘ machen“ (Eribon 2019a, S. 26).

12 Eribon: „Die Beleidigung ist daher Aneignung und Enteignung zugleich“ (Eribon 2019a, S. 26). Und, etwas prosaischer, Sartre in Saint Genet: „Alles geschieht so, als wenn plötzlich eine Buchseite bewußt würde und sich mit lauter Stimme gelesen fühlte, ohne sich lesen zu können“ (Sartre 1982, S. 71). Beide Zitate lassen sich als Variationen dessen begreifen, was oben in den Begriffen „Erkenntnis“ und „Unterwerfung“ beschrieben wurde.

13 Offensichtlich konkretisiert sich die von Foucault beschriebene Macht-Wissen-Dynamik hier an der lebensweltlichen Erfahrung: Das Wissen, welches die Heterosexuelle über den homosexuellen Abteilungsleiter hat, setzt sie diesem gegenüber in eine Position der Macht, sofern sich ihr die Möglichkeit bietet, ihn zu outen, das heißt gewaltsam seinem Versteck zu entreißen und ihn dem Blick der Anderen preiszugeben: als das, was er ist und zu verstecken sucht.

14 „Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers“ (Foucault 1993, S. 42).

15 Mit bewundernswertem Mut und großer Offenheit berichtet Édouard Louis von diesen inneren Kämpfen, die zugleich Kämpfe einer „Abweichung“ mit der Gewalt einer gesellschaftlichen Norm sind: vom Wunsch, dieser Gewalt und der Schmach, mit der sie straft, nicht länger ausgesetzt sein zu müssen; vom Entschluss, von nun an anders, das heißt „normal“ sein zu wollen und der Hoffnung, die Maske, die man sich zu diesem Zweck gegeben hat, möge zur Wahrheit werden; und letztlich von der Desillusionierung, die unweigerlich auf diese unbeholfenen Versuche, einen schmerzfreien Weg in der Welt zu finden, folgen muss: „Sich ändern zu wollen, sich über sich selbst zu belügen, genügt nicht, um die Lüge zur Wahrheit werden zu lassen – das war mir nicht klar“ (Louis 2015, S. 155-183, hier S. 165). Angesichts dieser Kämpfe ist es oftmals die Flucht, die bleibt, um einer feindlich gesinnten Umgebung zu entkommen und sich Möglichkeiten eines anderen Lebens zu erschließen, das Luft zum Atmen verspricht. Zum Motiv der Flucht als strukturierendem Prinzip homosexuellen In-der-Welt-seins vgl. ebenfalls Louis‘ Roman, Eribons Rückkehr nach Reims sowie insbesondere die Kapitel „Die Flucht in die Stadt“ und „Die Kraft zu fliehen“ in den Betrachtungen zur Schwulenfrage (2019, S. 29-38 und 373-384).

16 Vor allem das Wort in der Selbstbehauptung zu ergreifen: für sich, aber ebenso gemeinsam mit allen, mit denen man sich aufgrund einer „homologe[n] Position“ in der sexuellen Ordnung durch eine „sexuelle Solidarität“ verbunden weiß (Eribon 2019a, S. 192) – kann die Möglichkeit einer solchen Transformation „aufschließen“. Aber auch die Flucht war und ist, wie gesagt, einer der wichtigsten Wege, „sich selbst in einer anderen als der gesellschaftlich programmierten und kulturell vorgeschriebenen Weise zu erfinden“ (Eribon 2019b, S. 73). Wobei dieser Punkt nicht zwangsläufig auf die Flucht im geographischen Sinne zu beschränken ist: fliehen kann man auch in den Reichtum einer inneren Welt, wie er einem durch „weichenstellende“ Lektüreerlebnisse eröffnet wird. Und nicht selten ist es eben diese innere Welt, die sich, ist der Schritt aus dem closet einmal getan, mit einer gewissen Theatralität äußerlich reinszeniert findet, mit dem erklärten Ziel, sich den Anderen ohne Scham zu zeigen. Vgl. hierzu Eve Kosofsky Sedgwicks Artikel „Shame, Theatricality, Queer Performativity” (2003), sowie Eribons Une morale du minoritaire. Variations sur un theme de Jean Genet (2001) und das Kapitel „Subjektivität und Privatleben“ in den Betrachtungen zur Schwulenfrage (S. 146-160).

17 Und weiter: „Der Entschluss war lange in mir gereift, so lange, bis ich ihm nicht mehr ausweichen konnte. Ich konnte nicht mein ganzes Leben mit der Scham und der Angst verbringen, schwul zu sein. Das war einfach zu peinvoll und zu mühsam“ (ebd.).

18 Dem ist hinzuzufügen, dass es sich beim coming out im vorgeschlagenen Sinne keineswegs um eine einmalige Angelegenheit handelt. Jeder Mensch ist mehreren unterschiedlichen sozialen Räumen und Gruppen zugehörig, ist Teil vielgestaltiger Beziehungsformen (familiäre Beziehungen, Freund:innenschaften, Beziehungen zu Kolleg:innen usw.). Entsprechend wird er sich stets von Neuem in Situationen wiederfinden, die von ihm eine Wahl verlangen: das Wort ergreifen oder schweigen, sich zeigen oder vor dem Blick der anderen verbergen, was man ist? So gesehen ist das coming out ein nie endendes, ein Lebensprojekt (vgl. Eribon 2019a, S. 167 f.).

19 Wobei hinzuzufügen ist, dass es sich hier nicht um „totale“ Sichtbarkeit handelt. Auch, wenn man sich offen zu einem schwulen Leben bekennt, gehört zu diesem das Erfordernis, die Sichtbarkeit „strategisch“ einzusetzen, was auch bedeuten kann, sich gegebenenfalls zurückzuziehen und auf Sichtbarkeit zu verzichten. Denn sichtbar zu sein, heißt letztlich auch, eine Angriffsfläche zu bieten und sich der realen Gefahr physischer Gewalt auszusetzen (vgl. dazu Eribon 2019a, S. 35, sowie Eribon 2016, S. 209-211).

 

Literaturverzeichnis

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Autor:in: Maximilian Thieme studiert Soziologie, Philosophie und Germanistik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sein Interesse gilt einem kritischen, der Welt zugewandten Denken unserer Gegenwart.