Zum Ambiguitätserleben junger, in Deutschland lebender Muslim*innen

Lena Barth, Paul Kaiser, Gonca Tuncel-Langbehn, Barbara Rüttner und Lutz Götzmann

Y – Z Atop Denk 2021, 1(10), 7.

Abstract: Vor dem Hintergrund einer Globalisierung einerseits und Nationalisierung andererseits erhält die Frage der Ambiguitätstoleranz, d.h. des Ertragens von kultureller Vieldeutigkeit und Vagheit ein besonderes Gewicht. Was Ambiguitätstoleranz in einer Gruppe von 50 jungen, in Deutschland lebenden Muslim*innen bedeutet, wird in der vorliegenden qualitativen Studie untersucht. Eine hohe Ambiguitätstoleranz wird in den Interviews wesentlich häufiger erwähnt als eine geringe Ambiguitätstoleranz mit Tendenzen zu einer (religiösen) Radikalisierung. Die Wertschätzung verschiedener Kulturen und Lebensstile sowie eine gewisse Resilienz gegenüber Diskriminierungen gehen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz einher. Es ist aber auch möglich, dass trotz Ambiguitätstoleranz die entsprechenden Einstellungen ambivalent bleiben. Ein Mangel an Halt, diffizile interpersonelle Konflikte (vor allem in der eigenen Familie) sowie die Hinwendung zur Religion treten gemeinsam mit Äußerungen zur Ambiguitätsintoleranz auf. In den Kasuistiken vertieft sich der Eindruck, dass Ambiguitätstoleranz in triadisch strukturierten, als Kollektiv funktionierenden Familien begünstigt wird, während frühe traumatische Erfahrungen und emotionale Distanz in Krisen eine geringe Ambiguität fördern, insbesondere in der Adoleszenz. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von Ambiguitätstoleranz sowohl auf Seiten des aufnehmenden Landes wie der Migrant*innen.

Keywords: Integration, Ambiguität, Identität, Ausgrenzung, Radikalisierung

Veröffentlicht: 18.10.2021

Artikel als Download: pdfDas innere und das äußere Ausland

 

1. Einführung

1.1. Kulturelle Ambiguität und psychische Ambiguitätstoleranz

Ambiguitätstoleranz ist ein Begriff, den die Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik (1908-1958) prägte. Wir wollen kurz auf ihre Geschichte eingehen, weil diese ihre Affinität zur Forschungsthematik von Ambiguitätsintoleranz und der autoritären Persönlichkeit unmittelbar evident erscheinen lässt. Wegen der damaligen Pogrome war ihre Familie 1914 aus dem galizischen Lemberg nach Wien geflüchtet, wo Else Frenkel sich nach einem Studium der Mathematik, Physik und Psychologie als Psychoanalytikerin ausbilden ließ. Mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 floh sie erneut, diesmal in die USA. Hier arbeitete sie u.a. mit Theodor Adorno zusammen. Ihre Ergebnisse aus sozialpsychologischen Interviews waren Teil der berühmten Studie über die autoritäre Persönlichkeit (Adorno 1950). Dabei wurden die Grundzüge der autoritären Persönlichkeit mit einem Festhalten an Konventionen, Machtorientierung und Unterwürfigkeit, Destruktivität und Zynismus beschrieben (Adorno 1950). Unter dem Begriff der „Ambiguitätstoleranz“ verstand Frenkel-Brunswik das Ertragenkönnen von Mehr- oder Vieldeutigkeit, und zwar als eine typische Persönlichkeitseigenchaft. Entsprechend ist Ambiguitätsintoleranz das Nicht-Ertragen-können von vieldeutigen oder auch widersprüchlichen Sachverhalten, welche als Grundlage für Frustrationsintoleranz, Rassismus und Autoritarismus betrachtet werden kann (Frenkel-Brunswik 1949). In späteren Studien zeigte sich, dass Personen mit hoher Ambiguitätstoleranz dazu neigen, ambige Situationen aufzusuchen und zu genießen (Budner 1962; McDonald 1970). Budner (1962) definiert eine ambige Situation folgendermaßen:

„Eine ambige Situation (ambige situation) lässt sich definieren als Situation, die von einer Person nicht adäquat strukturiert oder kategorisiert werden kann, weil sie die dazu nötigen Hinweise (cues) nicht besitzt. Es lassen sich drei Arten solcher Situationen unterscheiden: Vollständig neuartige Situationen, bei denen die mit ihnen konfrontierten Personen noch über keine Hinweise zu ihrer Bewältigung verfügen, komplexe Situationen, bei denen eine große Anzahl von Hinweisen berücksichtigt werden muss, und widersprüchliche Situationen, bei denen verschiedene Komponenten oder Hinweise jeweils unterschiedliche Strategien plausibel erscheinen lassen, also kurz gesagt: neuartige, komplexe oder unlösbare Situationen.“ (Budner 1962; deutsche Übersetzung in Bauer 2011, S. 37)

Heute wird der Begriff der Ambiguität auch in den Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften verwendet. Bauer (2011, S. 38, siehe dazu auch Bauer 2018) definiert „kulturelle Ambiguität“ folgendermaßen:

„Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann.“ (Bauer 2011, S. 27)

So ließe sich sagen, dass kulturelle Ambiguität die Umwelt (wie auch deren verinnerlichte Aspekte, vgl. Morel 2017, S. 271 ff.) eines Individuums beschreibt, die Zeichen der Vieldeutigkeit bzw. Uneindeutigkeit aufweist. Ambiguitätstoleranz bzw. -intoleranz ist die Eigenschaft einer Person, die darüber Auskunft gibt, in welchem Ausmaß diese eine ambige Situation, d.h. die Ambiguität einer Situation ertägt. Zur Definition von Ambiguität gehört auch, dass verschiedene Deutungsmuster gleichzeitig vorliegen müssen. Ambiguitätsphänomene sind in der Regel passager: Sie bestehen, bis eine der konkurrierenden Deutungsmuster überhandnimmt (Bauer 2011, S. 28). Die Gruppen mit geringer Ambiguitätstoleranz dringen auf die rasche Eliminierung einer aufkommenden Ambiguität. Im Falle der Migration ist Ambiguitätstoleranz gleichermaßen von den ankommenden Migrant*innen wie für die Population des Gastlandes elementar, um eine jeweilige Radikalisierung zu vermeiden. Bauer (2011, S. 37) beschreibt hier einen Zyklus, den er anhand divergierender Auslegungen des Korans expliziert:

„Zu Beginn entsteht aus verschiedenen Gründen ein Ambiguitätsüberschuss, der zu einer Krise führt. Diese Krise löst einen Prozess der Disambiguierung aus, der zumeist in mehreren Schritten erfolgt. Diese Disambiguierung wird aber nicht bis zu Ende geführt, weil ein vollständiges Auflösen jeder Ambiguität wiederum als Verlust erschienen wäre. So steht am Ende des Prozesses nicht etwa völlige Eindeutigkeit, sondern immer noch Ambiguität, die allerdings nun überschaubar und sozial handhabbar geworden ist. Diese „gezähmte“ Ambiguität wird sodann als fester Bestandteil der Kultur akzeptiert, durch kulturelle Handlungen stets aufs Neue bestätigt und als Teil des kulturellen Wissens etabliert. Nach einer langen Zeit einer stabilen Ambiguitätstoleranz führt die Herausforderung durch die westliche Moderne zu einer neuen Krise.“ (Bauer 2011, S. 57)

Diese Abfolge von Ambiguitätsüberschuss, Ambiguitätskrise, Disambiguierung und Ambiguitätszähmung sowie der Wiederaufnahme des Zyklus, sobald erneut entgegengesetzte Sachverhalte auftauchen, lässt sich unserer Ansicht nach auch auf das Individuum übertragen, und dürfte v.a. während der Adoleszenz, oder eben im Verlauf einer Migration besonders intensiv sein. Die persönliche Ambiguitätstoleranz würde dann diesen Zyklus moderieren.

Der Islam, so Bauer (2011, S. 15 und S. 74 ff.), war über viele Jahrhunderte eine „Kultur der Ambiguität“, aufgrund der Internationalität und Multikulturalität der islamischen Welt. Erkennbar ist die Ambiguität aber auch in der Vielfalt der arabischen Sprache als Konsonantensprache oder etwa in den typischen Mehrdeutigkeiten der arabischen Poesie. Das westliche Denken scheint im Vergleich dazu wesentlich ambiguitätsintoleranter (Bauer 2011, S. 398). So baut das typisch „westliche“ naturwissenschaftliche Denken größtenteils auf Eindeutigkeit auf. Beispielhaft steht dafür Johannes Keplers Satz: „Wer nie zweifelt, wird sich auch nie sicher sein“. So ist der Zweifel der Moderne nichts anderes als eine Methode, die zur wissenschaftlichen, experimentell gesicherten Wahrheit führen soll. Auf Seiten des Islams fand erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Tendenz zur Disambiguierung mit Abnahme der Ambiguitätstoleranz statt (Bauer 2011, S. 387). Dabei spielt die Gleichsetzung oder Verknüpfung säkularer und religiöser Politikdiskurse eine wesentliche Rolle: Der Islam wurde in Form einer Ideologie gleichsam „neu erschaffen“ (Bauer 2011, S. 52). Mit der forcierten Hinwendung zu seinen Ursprüngen ist der radikalisierte Islam ein vergleichsweise modernes Phänomen. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde der Islam dann auf westlicher Seite als „Ersatzfeind“ aufgebaut (Bauer 2011, S. 19). Das Gefühl der Bedrohung ersetzt eine frühere, bis in die 1980er Jahre bestehende Faszination des Islams. So wurde im Westen „Fremdenfeindlichkeit“ und „Islamophobie“ zu dem Symbol eines Disambiguierungsprozesses in einer zunehmend ambiguitätsintoleranten Gesellschaft. Auf beiden Seiten, sowohl auf Seiten des islamophoben Westens wie des fundamentalistischen Islams, hat insofern eine Disambiguierung und Radikalisierung stattgefunden. Slavoj Žižek (2015, S. 10) beschreibt diese im Grunde fundamentalistischen Prozesse als einen „Triumph der Ideologie“, welcher eine Gemeinschaft gegenüber dem gemeinsamen Feind vereint.

 

1.2. Radikalität als Folge von Ambiguitätsintoleranz

Radikalität als Folge von Ambiguitätsintoleranz, die das Ich ebenso wie die Gruppe kennzeichnet, ist sowohl auf Seiten des Gastlandes wie der Migrant*innen zu beobachten. Es finden sich verschiedene Hinweise, dass Deutsche zunehmend xenophob-radikal gegenüber Menschen mit einem Migrationshintergrund reagieren, bei einer gleichzeitigen Tendenz religiöser Radikalisierungstendenzen unter v.a. jungen Muslim*innen (vgl. Bauer 2018; Bozay 2020). In beiden Fällen ist die Radikalisierung als eine Abnahme der Ambiguitätstoleranz zu verstehen, die im Extremfall zu einem Handlungsdurchbruch, einer „passage à l’acte“: dem Terrorakt als letzte Abwehrlinie gegenüber dem Unerträglichen, d.h. der Wiederkehr des Unbewussten, führt (Götzmann 2021).

Bereits Else Frenkel-Brunswik (1949) stellte einen Zusammenhang zwischen Ambiguitätsintoleranz und Rassismus fest. Die autoritäre Persönlichkeit sei klassischerweise ambiguitätsintolerant. Spätere Untersuchungen bestätigten diesen Zusammenhang zwischen Ambiguitätsintoleranz und Ethnozentrismus, Dogmatismus, Rigidität und Autoritarismus (Bauer 2011, S. 36; Reis 1997, S. 109-131). Radikale Gruppierungen bieten eindeutige Erklärungen und strukturgebende Handlungsanweisungen, die Gefühle von Unsicherheit, Frustration, Ohnmacht und Ungerechtigkeit mildern (Khosrokhavar 2016). Andrea Mura (2014) zeigt, wie radikale Bewegungen die libidinösen Besetzungen ihrer Anhänger in Form einer „mimetischen Repräsentanz“ der archaischen Gesellschaft konservieren und v.a. hinsichtlich ihrer Eindeutigkeit festlegen (z.B. anhand binärer Bekleidungs- und Verhaltensregeln). Dahinter steht oft der Wunsch sowohl nach einer eindeutigen Einheit wie nicht-ambigen Reinheit (Varvin 2018). Sicherlich fördern Diskriminierungserfahrungen, v.a. im Zusammenhang mit der Migration, den Prozess der radikalisierenden Disambiguierung. Fethi Benslama (2017) erachtet deswegen die Wiederherstellung des eigenen Ich-Ideals als wichtigstes Motiv in der Psychodynamik der religiösen oder politischen Radikalisierung. So ist der, wie Benslama sagt, „Über-Muslim“ besonders stolz auf seinen Glauben: Er betrachtet sich als einzig wahren Muslim und setzt sich damit sowohl vom Feindbild eines imperialistischen und islamophoben Westens wie vom Feindbild einer ambigen islamischen Kultur ab. Die Fantasie einer idealen Welt soll eine tiefgreifende Orientierungslosigkeit verbannen, die sich aus der Konkurrenz des säkularen Westens mit einem religiösen, asketisch orientierten Islam ergibt. Auch Geneviève Morel (2018) versteht eine Radikalisierung von Migrant*innen als Antwort auf die Erfahrung einer sozialen Ungerechtigkeit, die in drei Phasen abläuft: der Loslösung von den bisherigen Strukturen (1), der Entstehung einer inneren Leere (2) und der Verführung zu einer neuen, religiös-politisch geprägten Selbstidentität (3). Von Bedeutung ist auch der Einfluss der familiären Verhältnisse: Knapp 70 % der jungen Muslim*innen mit Radikalisierungstendenzen wuchsen in „zerbrochenen Familien“ (broken home) auf, in deren chaotischer Verfasstheit der Wunsch nach eindeutigen, nicht-ambigen, haltgebenden Strukturen entstand (Gruber u. Lützinger 2015). Jaccard und Tiscini (2021) beschreiben bei jungen Islamisten, die im Gefängnis interviewt wurden, ein inneres Gefühl von Leere, Ausdruckslosigkeit und Stillstand. Die Autorinnen beschreiben einen „melancholischen Kern“, aus welchem sowohl Gefühle von Hass wie auch destruktive Handlungsimpulse entstehen. Im Übrigen finden Radikalisierungsprozesse häufig während der Adoleszenz statt, in welcher oft persönliche Krisen und Kränkungen auftreten (vgl. Neumann 2013). In dieser Lebensphase verläuft der Zyklus von Ambiguitätsüberschuss und regulierender Disambiguierung oft besonders intensiv, jeweils abhängig von der persönlichen Ambiguitätstoleranz.

 

1.3. Zur Situation junger Muslim*innen in Deutschland und den Forschungsfragen zur Ambiguitätstoleranz

In Deutschland leben heute etwa 4,5 Millionen Muslim*innen, welche 5,5 % der Gesamtbevölkerung ausmachen (Migrationsbericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, 2015, keine aktuellere Erhebung). Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestanden enge politische bzw. militärische Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland. Nach dem zweiten Weltkrieg lag der Schwerpunkt jedoch im Wirtschafts- und Handelsbereich (Boos-Nünning u. Karakasoglu 2004, S. 73ff.). Eine Migration von Arbeitskräften aus der Türkei in einem größeren Ausmaß setzte mit dem bilateralen Anwerbeabkommen 1961 ein. Die Zuwanderung muslimischer Arbeitskräfte zeigt sich auch darin, dass der Islam heute die drittgrößte Glaubensrichtung in Deutschland ist, nach dem Katholizismus und dem Protestantismus. In den letzten Jahren, sehr wahrscheinlich verstärkt durch die propagandistischen Bewertungen der Flüchtlingsbewegungen im Jahre 2015, scheint die Idee eines vielfältigen europäischen Kontinents bedroht. Deutsche verspüren meist diffuse Ängste gegenüber Migrant*innen benachteiligt zu werden oder sich in deren Andersheit zu verlieren. In einer Befragung von 2019 gaben 52 % der Deutschen an, den Islam als Bedrohung wahrzunehmen, und nur 36 % erlebten diesen als eine Bereicherung. 13 % der deutschen Bevölkerung plädierten dafür, Muslim*innen eine Zuwanderung nach Deutschland zu untersagen (Pickel 2019). Viele in Deutschland lebende Muslim*innen berichten, sich verstärkt ausgegrenzt, fremd, benachteiligt oder diskriminiert zu fühlen (Khosrokhavar 2016). Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Personen mit einem türkischen Migrationshintergrund im Vergleich zu gleichaltrigen Deutschen einen geringeren sozio-ökonomischen Status, höhere Anteile an psychosomatischen Beschwerden sowie eine verminderte Lebenszufriedenheit aufweisen (Razum, Spallek u. Zee 2011; in Migrationsbericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, 2015). Wir vermuten, dass sich diese Entwicklung auch auf das Ausmaß der Ambiguitätstoleranz junger Muslim*innen in Deutschland auswirkt. Vor diesem Hintergrund untersuchten wir 50 junge Muslim*innen, unter anderem mit der Frage, wie sich eine Ambiguitätstoleranz bzw. -intoleranz bei jungen Muslim*innen in Deutschland zeigt, und welche innerseelischen sowie äußeren Faktoren diese Ambiguitätstoleranz bzw. gegenregulierenden Disambiguierungsprozesse gegenwärtig begünstigen.

 

2. Methodik

2.1. Stichprobe und Studiendesign

Von Sommer 2018 bis Herbst 2019 führten wir insgesamt 50 Forschungsinterviews mit türkischen Muslim*innen zwischen 18 und 25 Jahren in Form einer Querschnittsstudie durch. Diese Studie wurde von der Ethikkommission der Universität Lübeck am 10.10.2017 befürwortet. Um eine möglichst breite soziale Stratifizierung der Stichprobe zu erzielen, versuchten wir, unsere Proband*innen sowohl in der Universität wie in islamischen Gemeinden, Verbänden und Beratungsstellen in Norddeutschland zu akquirieren. Allerdings stießen wir in islamischen Institutionen auf eine deutliche Zurückhaltung gegenüber unserem Projekt. Nur eine einzige islamischen Gemeinschaft hatte sich einverstanden erklärt, dass ihre Mitglieder an der Studie teilnehmen könnten. Aus diesem Grund stellten Studierende die Mehrheit in unserer Stichprobe dar. Die an der Studie teilnehmenden Muslim*innen (n = 50) waren 18 bis 25 Jahre alt (M = 22,32, SD = 1,93), in einer Geschlechterverteilung von 50 % weiblichen Probandinnen und 50 % männlichen Probanden. Die Probandinnen (n = 25) waren 18 bis 25 Jahre alt (M = 22,24, SD = 2,13) und die Probanden (n = 25) waren 18 bis 25 Jahre alt (M = 22,40, SD = 1,76). Die weiblichen und männlichen Proband*innen unterschieden sich nicht in ihrem Alter (U = 305,50, Z = -0,14, P = 0,89). Drei Proband*innen standen kurz vor dem Abitur (6 %), 3 Proband*innen waren Berufsschüler*innen (6 %), 7 Proband*innen waren in überwiegend handwerklichen Berufen beschäftigt (14 %) und 37 waren Student*innen (74 %). Alle Proband*innen bezeichneten sich hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit als Muslim*innen. Eine weitere Differenzierung wurde an dieser Stelle nicht vorgenommen. Die Interviews wurden mit einem halbstrukturierten Interviewleitfaden geführt. Die Fragen umfassten folgende Bereiche: Beziehungserfahrungen, Selbstbewusstsein/ Selbstbild, Konflikte und traumatische Erfahrungen, körperliche Erfahrungen, Geschlechtsidentität und Migration. Wir luden die Proband*innen ein, frei über sich selbst, ihre Gedanken und ihre Welt zu sprechen. Die Interviews wurden audio-dokumentiert, transkribiert und in das Softwareprogramm atlas.ti importiert.

 

2.2. Methodik der qualitativen Datenanalyse

Zunächst führten wir eine Probekodierung der ersten zehn Interviews durch. Auf der Grundlage dieser Kodierungen wurde ein Codebuch erstellt, welches als Grundlage für die Kodierung aller Interviews diente. Strukturale Codes (SC) der Ambiguitätstoleranz wurden aus der psychoanalytischen bzw. kulturwissenschaftlichen Theorie abgeleitet. Bei der Datenanalyse der ersten zehn Interviews wurden dann induktive, aus den Äußerungen der Proband*innen abgeleitete offene Codes (OC) entwickelt. Alle Codes wurden in einem Codebuch mit einer Definition und Ankerbeispielen beschrieben. Die weiteren 40 Interviews wurden anhand dieses Codebuchs kodiert. Mit Hilfe des „Memo Writings“ wurden alle Ideen, Assoziationen und Mini-Theorien während des Kodierungsprozesses in atlas.ti aufgezeichnet (Glaser u. Holton 2004). Ferner wurde auf Grund einer Co-Occurence-Analyse das gleichzeitige Auftreten strukturaler und offener Codes untersucht. In der Ergebnisdarstel-lung werden jeweils die drei offenen Codes ausgewählt, die am häufigsten gemeinsam mit den Codes der Ambiguitätstoleranz bzw. -intoleranz auftreten. Die Interrater-Reliabilität (Übereinstimmung zwischen zwei Ratern) wurde anhand des statistischen Maßes „Krippendorff‘s Alpha“ berechnet. In der vorliegenden Studie wiesen alle Codes eine ausgezeichnete Interrater-Übereinstimmung auf (cu-⍺ = .99). Im folgenden Abschnitt zeigen wir die Ergebnisse zur Ambiguitätstoleranz bzw. -intoleranz und vertiefen diese anhand von vier Kasuistiken, welche einzelne Aussagen in den Gesamtkontext einer Biographie einbetten. Die Fallbeschreibungen wurden so gestaltet, dass die Proband*innen nicht persönlich erkennbar werden.

 

3. Qualitative Ergebnisse und Kasuistiken

Hohe Ambiguitätstoleranz

Wir werden zunächst einige typische Ergebnisse aus der qualitativen Datenanalyse darstellen, welche die Codes der Ambiguitätstoleranz und das gemeinsame Auftreten mit weiteren Codes zeigen. In einem zweiten Schritt stellen wir einige Kasuistiken zu dem Thema Ambiguität vor. Äußerungen, die auf eine hohe Ambiguitätstoleranz hinweisen (n = 135), sind im Vergleich zu Äußerungen mit einer geringen Ambiguitätstoleranz (n = 13) deutlich häufiger. Die hohe Ambiguitätstoleranz trifft v.a. mit den Themen von Ambivalenz (n = 16), Wertschätzung (n = 15) und Stigmatisierung (n = 14) auf. So schildert eine Probandin Ambivalenz folgendermaßen:

„Es war immer ein hin-und-her bei mir. Ich habe mich wirklich nie deutsch gefühlt, zu keinem Zeitpunkt meiner Jugend, Kindheit, gar nicht! Türkisch habe ich mich auch nie gefühlt. Also ich habe mich Türkisch gefühlt, aber nicht so wie die Türken in der Türkei, das ist ein großer Unterschied.“

Hier zwei Beispiele für eine Wertschätzung, welche zeigt, dass sich aus konkurrierenden Kulturen eine dritte, eigene Kultur bilden kann:

„Ich denke, dass beide Kulturen irgendwie respektvoll gesehen und auch anerkannt werden. Man kann auf beide Seiten irgendwie stolz sein und man sollte es nicht als ein Gegeneinander verstehen.“

„Es ist eigentlich ein Segen. Also wirklich. Man wächst als Person. Weil, man kriegt zwei Sachen, also zwei Kulturen in seinem Leben geschenkt. Man kann viel, viel mehr sein. Man kann viel mehr erfahren. Deswegen ist es ein Segen. Man kann für sich selbst entscheiden, was man mehr ins sich nimmt, wo man mehr Erfahrung sammelt. Man kann mehr erreichen. Man kann seine eigene Kultur machen, sag ich mal (lacht). Aus beiden Kulturen etwas ziehen, sag ich mal. Das will ich so haben, dass will nicht so haben. Das möchte ich so aufnehmen und auch weiterverwenden. Es ist wirklich für mich ein Segen.“

Aus einer Ambiguitätstoleranz heraus scheint es möglich zu sein, Stigmatisierungen besser zu begegnen und diese sogar aufzulösen, auch wenn dieser Akt oftmals mit einer großen Anstrengung verbunden ist:

„Ich arbeite in einer Apotheke und da kommt jemand in die Apotheke der Vorurteile hat, vielleicht gegen Mädchen die ein Kopftuch tragen. Dann berate ich diese Person richtig gut und der ist so positiv überrascht von mir, dass ich in Erinnerung bleibe. Das ist für mich schon eine Spur, die ich hinterlassen will. Und somit können Vorurteile auch bekämpft werden.“

Kasuistische Darstellungen

Frau D. – Anpassung an konkurrierende Normen
Frau D. erzählt, dass ihre Mutter aus einer kurdischen, der Vater aus einer türkischen Familie stamme. Die ersten sieben Jahre ihres Lebens wuchs sie in der Türkei auf dem Land auf, sie bezeichnet ihre Kindheit als sehr behütet. Allerdings wurde die bikulturelle Beziehung ihrer Eltern von beiden Familien, also der türkischen wie kurdischen, stark kritisiert und angefeindet. Die Eltern hielten trotz dieser Kritik zusammen. Ihre Lösung war, dass sie nach Deutschland auswanderten. Frau D. erfuhr in ihrer Kindheit beides: die Ambiguitätsintoleranz der erweiterten Familien, welche die ethnischen Zugehörigkeiten als unvereinbare Gegensätze erlebten, und die Ambiguitätstoleranz der eigenen Eltern, die für diese Toleranz mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlten. Beide Eltern schlugen in Deutschland eine akademische Laufbahn ein, welche die Mutter für ihre Kinder opferte. Die Mutterschaft, so berichtet Frau D., sei immer deren „Leidenschaft“ gewesen, sie charakterisiert die Mutter als „sehr liebevoll“, aber auch „streng“. Der Vater blieb zwar als Alleinverdiener im Hintergrund, verhalf seiner Tochter jedoch, eine gewisse Ambiguitätstoleranz zu entwickeln bzw. auszubauen. So berichtet Frau D.:

„Ich habe mich früher immer versteckt mit dem von wo ich herkam, weil ich wollte auch so sein wie die, ich war Kind, ich wusste nichts. Ich meinte, ich bin Deutsche und ich bin genauso wie ihr deutsch. Und jeder meinte, du siehst aber nicht wie eine Deutsche aus, nein, ich bin deutsch, habe ich gesagt. Mein Vater hat mich gelehrt, vergiss niemals von wo du kommst und sag immer von wo du herkommst, weil das ist das Besondere, du bist zweiseitig. Du hast die deutsche Seite und du hast aber trotz alledem unsere kurdische Kultur.“

Frau D. war die Älteste von insgesamt sechs Geschwistern. Sie hatte immer in der Versorgung ihrer jüngeren Geschwister mitgearbeitet. Man darf annehmen, dass sie ein starkes Über-Ich, aber auch ein ausgeprägtes, sehr leistungsorientiertes Ideal-Ich ausbildete. Sie lernte sich sowohl in triadischen Verhältnissen (Vater – Mutter – Kind) als auch im Kollektiv der Familie gut zu bewegen. Aber sie hatte auch die Erfahrung gemacht, dass soziale (familiäre) Systeme durch Ressentiments gefährdet sein können. Nach dem Abitur schlug sie selbst eine akademische Laufbahn ein. Sie ist bis heute ebenso ehrgeizig wie erfolgreich. So berichtet sie über ihren Umgang mit einem Einstellungstest:

„Und dann habe ich die Zusage bekommen für einen Einstellungstest und dann war natürlich mein Herz so… am Pochen. Ich habe gelernt und gelernt zwei Wochen vor der Prüfung. Und dann kam der Einstellungstest und ich ging mit einem so schlechten Gefühl raus, ich dachte ok, es ist vorbei (lacht). Und dann habe ich nach einigen Monaten später… ja, ich glaube, das war… die Einladung kam im Oktober und die Zusage habe ich im Dezember bekommen für das Vorstellungsgespräch. Und da sollten wir noch irgendetwas vorbereiten mit einem kleinen Referat. Und dann habe ich ein Referat über (...) gemacht, wie man die Welt verbessern könnte, das war das Thema, glaube ich. Und dann habe ich die Zusage bekommen und ich habe so geweint, glaube ich, an dem Tag.“

Andererseits nimmt die Religion eine große Funktion im Lebensalltag der Familie ein und sie spielt auch in dem Leben von Frau D. eine sehr wichtige Rolle. Sie trägt ein Kopftuch und hatte schon in der Schule versucht, diese Wahl gegenüber anderen zu vertreten. Täglich führt sie alle essenziellen „Taten“, d.h. die religiösen Rituale durch:

„Ich muss meine Taten bewusst ausführen. Normalerweise ist man dazu angehalten, sich moralisch korrekt zu verhalten, um eben den Gesetzen zu entsprechen. Oder eben den gesellschaftlichen Normen. Aber ich verhalte mich eben moralisch korrekt oder gewissenhaft, weil ich der Überzeugung bin, dass ich von einer hören Macht, also das hört sich immer so lustig an, aber ich weiß nicht, wie ich das anders erklären soll. Also, dass man durchwegs zur Rechenschaft gezwungen wird. Also in meinem Verhalten, ich bin nicht korrekt, ich bin kein Übermensch, aber ich bin bemüht, auf die schlechten Gewohnheiten zu verzichten.“

Den Islam versteht Frau D. einerseits als ein Regelwerk, das Ratschläge zur Lebensführung vermittelt, aber auch die Möglichkeit zur meditativen Selbstbesinnung bietet:

„Der Islam bedeutet für mich, also es ist für mich eine Lebensgewohnheit, zur Selbstbesinnung. Also, um von den alltäglichen, dem weltlichen, etwas Anderes zu haben. Quasi etwas, was man nicht erklären kann. Das ist für mich alles. Und der Islam hat ja viele Gebote. Beispielsweise, wie soll ich sagen, Regeln, die mein Leben durchdringen. Und sich daran festzuhalten oder sich daran so zu hangeln, so täglich, das ist für mich quasi mein Lebensinhalt. Und eines der Bedürfnisse von mir persönlich, ein Grundbedürfnis, ist das Einkehren zu mir. Und der Kontakt zu einer höheren Macht, wenn man das so übersetzen möchte.“

Allerdings können innerhalb der Ambiguitätskonstruktion auch konkurrierende Normen und kulturelle Aspekte in eine funktionelle Beziehung zueinander gebracht werden: So dient die Religiosität bei Frau D. typischerweise als Wiedergutmachung für ihre Emanzipation als Tochter. Der berufliche Erfolg kann als delegierte Wunscherfüllung seitens der Mutter verstanden werden, die ihre akademischen Ambitionen der traditionellen Familienrolle opferte. Es scheint uns, dass gerade die Differenzen innerhalb der Ambiguität ein solches Austarieren der Interessen ermöglichen. Die Familie von Frau D. lebt in einem Großstadtviertel mit einer eher deutschen Population. Aber es ist weder für die Eltern noch für Frau D. selbst ein Problem, gute Beziehungen zu den Nachbarn zu pflegen und über die verschiedenen Kulturen ins Gespräch zu kommen. Frau D. kann hier, eingebettet in eine Großfamilie und den akademischen Ambitionen der Eltern folgend, eine Ambiguitätstoleranz leben.

So sind Kopftuch, Meditation und das Befolgen der Rituale eine Seite im Leben von Frau D., eine andere Seite ist die westliche Karriere als emanzipierte Frau. Es fällt aber auf, dass die türkische und die deutsche Kultur eher in einem konkurrierenden bzw., wie wir in der Diskussion vorschlagen werden, metonymischen Verhältnis zueinanderstehen. Wir haben den Eindruck, dass es Frau D. auf Grund der (unbewussten) triadischen Verhältnisse gelungen ist, eine hohe Ambiguitätstoleranz auszubilden. Es ist ihr möglich, verschiedene Aspekte der Wirklichkeit in einem Gleichgewicht zu halten, und sie ist dem Rat des Vaters gefolgt, keine Disambiguierung zugunsten der kurdischen bzw. türkischen Herkunft zuzulassen. Über-Ich und Ich-Ideal bewirken gleichzeitig einen starken Anpassungsdruck an die jeweils konkurrierenden Kulturen. Durch Anpassung wird eine (offene) Ambivalenz vermieden.

Von einer fortgeschrittenen, metaphorischen Ambiguität könnte man sprechen, wenn konkurrierende Kulturen, Normen oder Lebensstile in eine neue und vieldeutige Identität münden (vgl. Bhabha 2017). Beispielsweise hatte eine Probandin berichtet, dass eine ihrer Verwandten, die selbst das Kopftuch trage, akademisch sehr erfolgreich sei, und das Kopftuch deswegen nicht nur eine religiöse Bedeutung habe, sondern auch für berufliche Emanzipation stände. Die Signifikanten des Traditionell-Religiösen und der westlichen Liberalität schieben sich übereinander, und lassen dadurch das Objekt vieldeutig erscheinen: Es steht sowohl für Religiosität als auch für Emanzipation. Möglicherweise klingt diese Form von Ambiguität an, wenn Frau D. über ihre Identität spricht, dass sie zwischen Konflikten vermittelt (z.B. als Übersetzerin). Ihr Selbstbild ist durch emotionale Ruhe und geistige Reflexion bestimmt. Es ist wie eine Metapher, die sich aus den verschiedenen, entgegengesetzten Kulturen ergibt.

„Bei mir ist das so, ich bin ein ruhiger Mensch, ich schreie nie, auch wenn ich streite, schreie ich nie, ich bin eher ein ruhiger Mensch. Ich höre den Menschen zu und dann sage ich meine Meinung und wenn ich verletzt bin, dann bin ich ruhig. Weil anschreien bringt nichts, ich bin dann halt, ich sage dann nichts. Und meine ruhige Art sagt dann halt alles aus, ... wie gesagt, ich finde das Leben viel zu schade, wenn man mit Streit auseinandergeht, oder wenn ich mit Menschen streite, die ich liebe, weil sowas kann ich nicht, ich mag keinen Streit und auch keinen Stress oder Diskussionen.“

Herr E. – Entschärfung konkurrierender Normen
Auch Herr E. berichtet von einer Kindheit, die er als intakt erlebte. Sein Vater sei als Sohn türkischer Einwanderer in Deutschland geboren. Er habe die Mutter, die aus der Türkei stamme, während eines Urlaubs kennengelernt. Die Mutter sei in der Türkei geboren und dann mit 25 Jahren nach Deutschland migriert. Herr E. schildert die Ehe seiner Eltern als eine liebevolle Partnerschaft, die für ihn Ruhe und Wärme ausstrahle. Bis heute gebe es in der Familie einen offenen Austausch. Bestrebungen nach Autonomie, z. B. nach dem Abitur, wurden unterstützt und befürwortet. Auch seien die Eltern in der deutschen Gesellschaft gut integriert. Allerdings habe es auch immer eine starke Bindung zur Türkei gegeben, vermittelt durch die Großmutter mütterlicherseits, die mehrere Monate im Jahr nach Deutschland kam und die türkische Kultur einbrachte. Vor allem die Mutter habe Sehnsucht nach der herzlichen Großfamilie in ihrem Heimatland. In Bezug auf die Religion wurde Herr E. säkular erzogen. Er selbst verspürt zwar einen Glauben an „etwas Größeres“, aber dieses Gefühl ist für ihn unabhängig von irgendeiner spezifischen Religion. Er habe immer Freundschaften gehabt, sowohl mit Deutschen wie mit Türken. Alltagsrassismus habe Herr E. dennoch oft erlebt. Früher wurde er als türkisches Kind, etwa in der Schule, ganz konkret diskriminiert. Heute erlebt er den Rassismus diffuser, z.B. in Form von negativen Bemerkungen über den Islam. Er hat den Eindruck, dass der Islam heute als eine Art Projektionsfläche für ursprünglich rassistische Einstellungen diene. Aber im Großen und Ganzen würden ihn antiislamische Äußerungen nicht groß berühren – gleichwohl, wie Herr E. andererseits sagt, einzelne Bemerkungen durchaus verletzen könnten. Trotz dieser Probleme gelingt es Herrn E., beide Welten, die türkische wie deutsche in Form einer typischen Ambiguitätstoleranz zu akzeptieren. Er spricht von einer parallelen Lösung (bezüglich konkurrierender Kulturen):

„Es ist wichtig, diese Kultur hier anzunehmen. Weil das hier die Kultur ist, in der man lebt. Also sollte man versuchen, es parallel irgendwie zu lösen.“

Um zu einer eigenen kulturellen Identität zu kommen, stellt Herr E. seine eigene Person und wie er sich fühlt in den Mittelpunkt, während die jeweilige Kultur bzw. Nationalität für ihn an Bedeutung verlieren. Im Gegensatz zu Frau D. spielt weniger eine Anpassung an klar profilierte konkurrierende Normen, Stile und Identifikationsangebote eine Rolle. Vielmehr findet eine „Entschärfung“ statt, indem deren Bedeutung depotenziert wird. Herr E. steht weniger unter dem Druck des Über-Ichs, sich an die jeweilige Kultur anzupassen, die Vorgaben des „Großen Anderen“ (also der Kultur oder der jeweiligen Normen) scheinen milder zu sein:

„Wenn ich in den Spiegel schaue, ich weiß nicht, ich habe mich eigentlich wirklich noch nie selber über meine Herkunft oder meine Staatsangehörigkeit definiert. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich zuerst mal mich und wie ich mich fühle. Das hat in diesem Sinne erst mal wenig Kulturelles oder Nationales mit mir zu tun.“

Auch hier zeichnet sich eine metaphorische Ambiguität. Herr E. wählt jedoch über eine Entschärfung konkurrierender Signifikanten eine andere Strategie als beispielsweise ein Proband, der eine neue, transnationale Identität schöpft, bei welcher er sich sowohl türkisch wie deutsch fühlt und sich als „Deutschtürke“ bezeichnet. Es fällt jedoch insgesamt auf, dass diese Metaphorisierung der Ambiguität durch die Rückmeldungen der jeweiligen Kultur, sowohl der deutschen wie türkischen gestört wird, in die jungen Muslim*innen in Deutschland als Türken, in der Türkei als Deutsche definiert werden, und ihnen die Möglichkeit des Sowohl-als-Auch versperrt wird.

Geringe Ambiguitätstoleranz

Hinweise auf eine geringe Ambiguitätstoleranz (z.B. in Form einer religiösen Radikalisierung) kommen in den Interviews vergleichsweise selten vor (n = 13 vs. n = 135). Am häufigsten treten ein Mangel an Halt (n = 7), religiöse Themen (n = 4) sowie interpersonelle Konflikte (n = 3) gemeinsam mit dem strukturalen Code einer geringen Ambiguitätstoleranz auf. So spricht ein Proband über eine innere Leere (bzw. einen Mangel an Halt) in interpersonalen Beziehungen, aber auch in seiner Beziehung zu Gott:

„Ich habe mich so leer gefühlt in den zwischenmenschlichen Beziehungen und leer gefühlt gegenüber Gott.“

Andererseits geht eine geringe Ambiguitätstoleranz häufig mit einer Hinwendung zu religiösen Themen einher:

„Ich habe mir diese religiöse Vorlage genommen, weil ich dachte, das sei das Richtige.“

Typisch sind negative Affekte wie Wut und Rachegefühle, die infolge interpersoneller Konflikte auftauchen:

„Ich will auch nicht zu groß darüber reden, dass, wenn es mir passieren würde, wie ich dann handeln würde, das weiß ich nicht und das weiß keiner. Ich kann das schon irgendwo verstehen: eine Wut haben, die einen auf solche Gedanken bringt. Und ich denke, dieses Rachegefühl ist es auch, es den Verantwortlichen heimzuzahlen, das ist die größte Motivation.“

Kasuistische Darstellungen

Herr A. – Stabilisierung durch Eindeutigkeit
Herr A. berichtet von dem Gefühl, schon ganz früh im Leben „nicht dazugehört zu haben“. Hier unterscheidet er sich stark von ersten beiden Probanden, die beide ein triadisch strukturiertes Kollektiv schildern, in welchem sie sich wohl fühlten. Das Ausgeschlossensein verwandelte Herr A. in eine Art selbstgewählten Rückzug:

„Aber meist ist auch so, dass ich lieber alleine bin, vielleicht auch, weil ich mich auch nicht immer in die Gemeinschaft eingebunden fühle, alle hier in Gemeinschaften in der Stadt sind sehr zerrissen hier und ich habe hier auch keine, wo ich immer hingehe, also wo ich mich richtig verbunden fühle.“

Herr A. beschreibt eine Familie, welche vor allem väterlicherseits von Abbrüchen, Ambivalenzen und Ablehnungen geprägt wurde. Der Vater war depressiv, hatte selbst als „Kofferkind“ zwischen den Welten gelebt (vgl. Karatza-Meents 2014). Im Grunde war er nie in Deutschland angekommen. Die Mutter wirkt in den Schilderungen auffällig blass. Herr A. hatte bereits im Kindergarten, weil er ein türkisches Kind war, „Mobbing“ erlebt, und dann, in der Jugend häufig unter Depressionen, Schlaf- und Lernstörungen gelitten. Zur Wende sei es in seinem 20. Lebensjahr gekommen, und zwar dank der Religion (obwohl die Eltern „wenig religiös“ gewesen seien). Seine Vorbilder wurden die Propheten des Islams und andere „starke Männer“: Es war, als würde er Kontakt zu lebendigen, guten und mächtigen Primärobjekten finden. Herr A. hatte zunächst keinen Anschluss an eine islamische Gemeinde gesucht. Vielmehr fand er die meisten Informationen im Internet. Er war Gott nahe, fühlte sich nun frischer und konzentrierter. Allerdings wurde sein Verhalten immer strikter: strenges Beten, Kontaktabbrüche, keine Musik hören, Veränderung des Äußerlichen, all das gehörte zu seiner „Wiedergeburt“. Dann schloss er sich einer „orthodoxen“ Gruppe an; einige Mitglieder waren bereits nach Syrien gegangen. Er beschreibt, dass ihm dieser Weg „klar und durchdacht“ vorkam. Es gab kein unnötiges Abwägen mehr, er fühlte keine Ambivalenzen. Er hatte sich jetzt eindeutig festgelegt, gehörte zu einer Gruppe und das Lebensgefühl des Ausgeschlossenseins hatte sich dadurch aufgelöst. Er fühlte sich besser, ausgeglichener und stabiler:

„Also für mich als Muslim bedeutet das, also diese Ausgeglichenheit, ich hatte eine Phase, wo ich sehr ausgeglichen war, aber in anderen Sachen noch ins Extreme ging, wo ich mich mit Gott noch näher verbunden gefühlt habe. Also, wenn man halt in der Religion gefestigter ist, bzw. mehr Taten ausführt, dann denke ich auch, dass Muslim*innen mehr ausgeglichener sein können. Als wenn sie das ganz auslassen, dieses Spirituelle ist sehr wichtig. Ich denke, das bringt auch im Alltag viel Ausgelassenheit am Ende.“

Dann aber wendete sich das Blatt erneut: Herr A. lernte seine heutige Partnerin kennen, heiratete und wurde Vater. Diese Erfahrungen, v.a. aber die eigene Elternschaft und auch die gefühlte Verantwortung, hätten ihn, so berichtet er, emotional „weicher“ und „offener“ gemacht, und er habe begonnen, über sein religiöses Verhalten kritisch nachzudenken. Zug um Zug sei sein Leben bunter und vielfältiger geworden:

„Je mehr ich Verantwortung bekommen habe durch die eigene Wohnung, Arbeit, Kind etc., habe ich manche Sachen angefangen anders zu betrachten. Ich habe mehr verstanden, wie man mit Verantwortung umgeht, wie man mit verschiedenen Personenkreisen umgehen muss und dann hat dieses nur Orthodoxe, es ist ja nicht falsch, was diese Leute machen, aber es ist sehr schwer umzusetzen hier in dieser Gesellschaft, also manche Sachen.“

Herr A. nahm Abstand von einer nicht-ambigen Sichtweise auf die Welt, ohne seinen Glauben aufzugeben. Im folgenden Zitat spricht er zunächst über die westliche, vernunftbestimmte „Betrachtungsweise“, um dann auf den Glauben zu kommen, den er sich trotz der Distanz zur Praxis weiterhin bewahrt:

„Und es ist so, ich hatte diese andere Betrachtungsweise ja sogar ganz abgeschlossen, dass man eine Urteilsfindung sucht durch verschiedene Methoden und Instrumente, dann habe ich aber gesehen, diese Methoden und Instrumente sind ja nicht umsonst da, die sind ja da, um eine Lösung für eine bestimmte Situation zu finden und dadurch hat sich das so gewandelt, also durch den Alltag, durch verschiedene Personen, mit denen man den Umgang hatte. Manchmal hat meine Frau das Gefühl, dass wir die Religion schleifen lassen. Sie hat das Gefühl, dass wir die Religion in manchen Situationen nicht mehr so stark praktizieren wie früher aufgrund dieses Wandels bei mir, dass ich manche Sachen relativer sehe, aber sie sieht manche Sachen auch viel relativer, sie ist da viel aufgeschlossener. Aber ich glaube mehr als sie.“

Frau B. – Geborgenheit im Eindeutigen
Die Eltern von Frau B. leben „sehr traditionell“ und „abgeschieden“ von der deutschen Gesellschaft. Die Mutter spreche so gut wie kein Deutsch, sodass Frau B. bereits als Kind übersetzten musste: Sprachlich lernte sie früh eine Kultur der Ambiguität, wenn auch im Rahmen einer Parentifizierung. Auch für jüngere Geschwister hatte sie früh eine Verantwortung übernehmen müssen (z. B. beim Besuch von Elternabenden). Die Beziehung zu ihren Eltern beschreibt Frau B. als spannungsgeladen und ambivalent. Die Mutter sehe im Leben ihrer Tochter einen Spiegel der eigenen verpassten Möglichkeiten. Immer wieder komme es dadurch zu Verstrickungen, Neid und Verständnislosigkeit. Innerhalb der Familie sieht sich Frau B. in eine eng definierte Rolle gezwängt, etwa, wenn sie beim Besuch von Nachbarinnen über Stunden Tee ausschenken müsse. Diese familiären Ansprüche stehen in einem Widerspruch zu dem westlich-liberalen Lebensstil, vor allem im Rahmen des Hochschulstudiums. Bereits seit der Kindheit leidet Frau B. unter psychosomatischen Symptomen, vor allem unter Übelkeit und Schwindel, die in Situationen von Druck auftreten. In der Adoleszenz fand Frau B. dann in einer islamischen Gemeinde nicht nur Halt und eine gewisse Geborgenheit, sondern vor allem auch die Möglichkeit eines intellektuellen Austauschs, z.B. über die Werte des Islams. In einer Freundschaft mit einer etwas älteren Frau, die sie als „Mentorin“ erlebte, fühlte sie sich besser gespiegelt und verstanden als zu Hause. Sie begann selbst, Kinder in Religion zu unterrichten und verlor immer mehr Kontakte außerhalb der Gemeinde. Im Nachhinein habe sie das Gefühl, dass sie von dieser Gemeinde sozial, aber auch gedanklich wie aufgesogen worden war. Ihre Mentorin hatte ihr dann vorgeschlagen, nach Norwegen umzusiedeln, um dort ihren Traum, nämlich ein Architekturstudium, zu verwirklichen. Aber als sie dann in Norwegen ankam, war keine Rede mehr von dem versprochenen Architekturstudium. Vielmehr hieß es nun: „Wir sind die Auserwählten, wir müssen den Islam lehren“. Der Plan war, als Lehrerin in den Nahen Osten zu gehen, um dort bei dem Aufbau islamischer Schulen mitzuwirken. Jetzt erst realisierte Frau B., dass sie ausschließlich für die Zwecke dieser islamischen Gruppe eingesetzt werden sollte:

„Ich habe wirklich gedacht, dass ich immun dagegen sei, aber dieses Gefühl von Zusammenhalt, wir gehören zusammen und wir sind was; nichts Besonderes, aber wir sind eine Einheit, das bindet. Und dadurch, dass ich auch zehn Jahre oder so in der Gemeinde war, habe ich das nicht gemerkt bis zu dem Zeitpunkt, wie gesagt, als ich selber dran war. Und ja, so im Nachhinein merke ich auch, dass ich sehr viel übersehen habe, was ich nicht hätte übersehen sollen.“

Trotz einer ganzen Reihe von Drohungen gelang es Frau B., den Aufenthalt in Norwegen abzubrechen und nach Deutschland zurückzukehren. Frau B. ließ das Flugticket in den Nahen Osten verfallen, brach den Kontakt zu der Gemeinde und der „Mentorin“ ab und zog wieder zu den Eltern. Wenig später schloss sie das Abitur ab. Bis heute beschäftigt es sie, dass sie ihre Suche oder ihr Begehren nach Geborgenheit, Freundschaft, Spiegelung, Verständnis und Anregung bis an den Punkt einer religiösen Radikalisierung geführt hatte.

 

4. Diskussion

Ambiguitätstoleranz beschreibt das Ertragen von Vieldeutigkeit und Vagheit. Ambiguität war ein typisches Merkmal der islamischen Kultur und die heutige Ambiguitätsintoleranz des Islam ist im Grunde weniger traditionsorientiert, als vielmehr eine ideologische, nach westlichem Vorbild gestaltete Neuschöpfung (Bauer 2011, S. 52). Aus dieser Perspektive sind Ambiguität bzw. Ambiguitätstoleranz sowohl in der westlichen wie islamischen Kultur in Verruf geraten. Die westliche Naturwissenschaft scheint ebenso anti-ambige zu sein wie der radikale Islam: Ein Ambiguitätsüberschuss führt zu verwirrenden Ambiguitätskrisen, die mit einer Disambiguierung/ Xenophobie auf der einen Seite und islamischer Radikalisierung auf der anderen Seite beantwortet werden. In unserer Studie, die auf Grund des sozialen Bias v.a. sozial gut integrierte junge Muslim*innen untersuchte, konnten wir diese Prozesse im Einzelnen und in der Atmosphäre einer gewissen Alltäglichkeit beobachten (d.h. weder im Gefängnis noch im Krieg, vgl. Morel 2019; Jaccard u. Tiscini 2021).

 

4.1. Hohe und geringe Ambiguitätstoleranz

Es ist wohl auch auf den sozialen Bias zurückzuführen, dass die befragten Muslim*innen sich zehnmal häufiger zu Ambiguitätstoleranz (n = 135) als zur Ambiguitätsintoleranz (n = 13) äußerten. Die beiden ersten Kasuistiken zeigen eine Sozialisation der Muslim*innen innerhalb des Kollektivs einer triadisch strukturierten Familie. Indem eine depressive Position (Klein 1962) eingenommen wird, konnten Frau D. und Herr E. eine hohe Ambiguitätstoleranz entwickeln. Verschiedene Kulturen bzw. Normen und Lebensstile können zusammengebracht und – wie die Co-Occurence-Analyse in der Gesamtstichprobe zeigt – wertgeschätzt werden. Es muss keine Kultur abgespalten und entwertet werden, um die andere, „gute“ Kultur (in unserem Fall das Türkische bzw. der Islam) zu schützen. Von der depressiven bzw. ambiguitätstoleranten Position aus lassen sich auch xenophobe bzw. islamophobe Diskriminierungen trotz ihres Verletzungspotentials besser ertragen. Allerdings kann es auch sein, dass gegenüber den divergierenden Kulturen eine ambivalente Haltung eingenommen wird, d.h. dass sowohl gegenüber der türkischen sowie der deutschen Kultur Vorlieben und Vorbehalte bestehen. Typisch für Frau D. ist, dass sie sich den Ansprüchen der verschiedenen, widersprüchlichen Kulturen jeweils anpasst, ohne diese für sich zu verbinden (Religion, Beruf). Es ist ihr starkes Über-Ich, das mit einem hohen Leistungsideal einhergeht, das diese Anpassung ermöglicht bzw. erzwingt. Eine reifere Ambiguitätstoleranz wird dann ersichtlich, wenn Frau D. aus der Position einer eigenständigen Identität zu vermitteln versucht. Auch Herr E. berichtet von einer Biografie, die durch eine hohe Ambiguitätstoleranz geprägt ist. Hier wird besonders deutlich, dass die als liebevoll erlebten Primärbeziehungen das Ertragen von Vielfalt ermöglichen. Herr E. empfindet keinen Assimilationsdruck. Es gelingt ihm vielmehr, die verschiedenen Kulturen bzw. deren Ansprüche zu entschärfen, so dass deren Konkurrenz weniger bedrängend erlebt wird.

So finden sich verschiedene Formen der Ambiguitätstoleranz: Zunächst gibt es die Toleranz gegenüber einer Ambiguität, die konkurrierende und divergierende Kulturen betrifft. Das Individuum toleriert diese Tendenzen, ohne diese aber in seiner Identität, d.h. in seiner „identitären Antwort“ (vgl. Morel 2017, S. 271) auf diese ambigen Tendenzen zu verbinden. Es ist die Ambiguität des Eins-nach-dem-Anderen: Das Individuum arrangiert sich, je nach Situation, erst mit dem Türkischen, dann mit dem Deutschen, indem es sich an die jeweilige Kultur anpasst. Versteht man die Kultur (bzw. die jeweiligen Normen oder Lebensstile) als Signifikanten, ließe sich von einer metonymisch-konkurrierenden Ambiguität sprechen. Lacan verstand unter Metonymie, dass innerhalb einer Signifikantenkette ein Signifikant dem anderen Signifikanten folgt (Evans 2002, S. 190 ff). So arrangiert Frau D. ihr Leben so, dass eines nach dem anderen kommt: Dem Signifikanten, der für den Beruf steht, folgt der konkurrierende Signifikant religiöser Tradition, und Frau D. versucht, sich möglichst gut anzupassen. Davon zu unterscheiden ist die metaphorisch-konfundierende Ambiguitätstoleranz: Wie bei der Plattentektonik schieben sich kulturelle Signifikanten übereinander und bilden eine Ambiguität, die eine neu geschöpfte Identität bewirkt (Evans 2002, S. 186 ff). Wir haben den Eindruck, dass dem Selbstbild eines Ichs, dass sich friedfertig, offen und tolerant zeigt, eine solche metaphorische Tektonik zu Grunde liegt.

In den zwei Kasuistiken, die Probanden mit einer, zumindest zeitweise, geringen Ambiguitätstoleranz vorstellen, stellen sich die Biographien eher schwierig, mit Brüchen und problembeladen dar. Die Beziehung zu den Eltern ist konflikthaft, das familiäre Klima kühl, einhergehend mit emotionalen Vernachlässigungen. Diese Berichte entsprechen der bisherigen Literatur, welche auf eine hohe Prävalenz von frühen traumatischen Erfahrungen bei radikalisierten Personen hinweist (u.a. Campelo et al. 2018; Jaccard u. Tiscini 2021). So traten die Motive (bzw. Codes) eines „Mangels an Halt“ und „interpersonelle Konflikte“ besonders häufig gemeinsam mit einer geringen Ambiguitätstoleranz auf. Grundlegend, so scheint es uns, für die Radikalisierung ist die Sehnsucht oder der Wunsch, das Begehren nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Die muslimische Gemeinschaft, die eine mystische Homogenität bildet, wird zu einem „guten Objekt“, das als Ersatz für das Fehlende in der Kindheit dient. Khosrokhavar (2016) bezeichnet eine solche Gemeinschaft als „Neo-Umma“: Sie soll dabei helfen, der als feindselig erlebten westlichen Gesellschaft zu entrinnen, in welcher das Gefühl der Nichtzugehörigkeit (sog. „Anomie“) mit ständigen Stigmatisierungen erlebt wird. Über die, unter Umständen, dyadische Verbindung zu Gott wird Halt gesucht, um die innerpsychischen Spannungen zu beruhigen. Entsprechend trat der Code „religiöse Themen“ häufig gemeinsam mit einer geringen Ambiguitätstoleranz auf, und auch in beiden Kasuistiken spielte die Religion eine wichtige Rolle. Es wird deutlich, dass die Ambiguität ausschließlich metonymisch-konkurrierend, und die Divergenz der Signifikanten bzw. die Schwäche der Ambiguitätstoleranz bewirkt eine disambiguierende Radikalisierung. Eine Metaphorisierung der Ambiguität ist nicht möglich.

So lässt es sich bei Herrn A. gut vorstellen, dass er auf Grund früher Mangelerfahrungen nicht die emotionale Kapazität besaß, den subjektiven „Ambiguitätsüberschuss“ im Rahmen einer depressiven, d.h. reifen, Position in der Adoleszenz zu bewältigen. So kam es mit der Hinwendung zur Religion und der Radikalisierung zu einer gegenregulierenden Disambiguierung. Je intensiver sich Herr A. mit Theologie beschäftigte, desto deutlicher wurde, dass er ein neues, geistiges Zuhause gefunden hatte. Zudem bildete sich durch die Aufnahme in die salafistische Gruppe, aber auch durch die Vorstellung, Mitglied der Neo-Umma zu sein, das Gefühl von Einsamkeit und Ausgeschlossensein zurück. Aber dann gelang es ihm doch, mit Hilfe seiner eigenen Familie ein neues Gleichgewicht aus westlichem Lebensstil und Glaube (ohne Kontakt zu der radikalisierten Gruppe) zu finden.

Die Biografie der vierten Probandin, Frau B., ist mit einer religiösen Sozialisation eng verwoben. Sie besitzt seit ihrer Kindheit ein großes kulturspezifisches Wissen über den Islam. Aber gleichzeitig fühlt sich Frau B. innerhalb ihrer Familie sowohl ausgeschlossen wie ausgenutzt. In einer Gemeinde findet sie einen sozialen Zusammenhalt und das Gefühl, eine gute Gläubige zu sein. Frau S. sieht sich als „gute Muslimin“, die die richtigen „Taten“ ausübt. Die Disambiguierung nimmt einen ihr selbst kaum bewussten Verlauf, bis ihr deren Konsequenz drastisch vor Augen geführt wird (mit der Aufforderung, als islamische Lehrerin in einen nahöstlichen Staat zu reisen). Aber nun, in dieser erneuten Krise, hilft die eigene Familie, v.a. die Mutter, die Disambiguierung zu stoppen, und ein mehr ambigues Leben in Deutschland zu führen.

So zeigt sich, dass die Entwicklung einer geringen Ambiguitätstoleranz (in Form einer religiösen Radikalisierung) immer multiper-spektivisch zu betrachten ist. Eine spezifische emotionale Mangelerfahrung in der frühen Biografie, das Erleben von Frustrationen im gesellschaftlichen Außen sowie die reale Verfügbarkeit radikaler Netzwerke können einen Einstieg für radikales Denken und Handeln bewirken. Hier ist die Ambiguität klar durch eine Metonymie der Signifikanten bestimmt. Je stärker die Divergenz der einzelnen Signifikanten ist, und je weniger das Individuum über die Kapazität verfügt, Unterschiedliches zu verbinden, desto größer ist die Gefahr, dass widersprüchliche Signifikanten entweder negativ bewertet werden (als Feindbild, z.B. indem der Westen abgelehnt oder bekämpft wird) oder sich ganz aus der – dadurch monochromen – Kette lösen (als quantité négligeable, z.B. indem der Westen keine Rolle mehr spielt).

 

4.2. Wie fühlt sich ‚Ausland‘ an?

In gewisser Hinsicht begreift Freud die Psychoanalyse als Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit dem Ausland. Die Realität gilt – aus der Perspektive des Ichs – als das „äußere“ Ausland, das Verdrängte ist das „innere Ausland“ (Freud 1933, S. 62). So eröffnet Freud die 31. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse:

„Meine Damen und Herren! Ich weiß, Sie kennen für Ihre eigenen Beziehungen, ob es sich um Personen oder um Dinge handelt, die Bedeutung des Ausgangspunktes. So war es auch mit der Psychoanalyse: Für die Entwicklung, die sie nahm, für die Aufnahme, die sie fand, ist es nicht gleichgültig gewesen, daß sie ihre Arbeit am Symptom begann, am Ichfremdesten, das sich in der Seele vorfindet. Das Symptom stammt vom Verdrängten ab, ist gleichsam der Vertreter desselben vor dem Ich, das Verdrängte ist aber für das Ich Ausland, inneres Ausland, so wie die Realität — gestatten Sie den ungewohnten Ausdruck — äußeres Ausland ist.“ (Freud 1933, S. 251).

Ein Jahr zuvor, in „Das Ich und das Es“ beschrieb Freud das Es als das „andere Psychische“ (Freud 1923, S. 251). Bereits hier besteht der Gedanke des Anderen, Andersartigen, des Auslandes oder Ausländischen, der Alterität. Wir haben schon auf die Flüchtlingsbiographie von Else Frenkel-Brunswik hingewiesen. Auch im Falle Freuds war nicht nur seine Biographie, sondern bereits die Geschichte seiner Vorfahren durch Rassismus, Flucht, Migration und Exil geprägt. Freuds Familie war ursprünglich im Rheinland zu Hause. Ende des 14. Jahrhunderts musste die Familie wegen Pogromen nach Osteuropa fliehen. Freuds Vater migrierte mit seiner Familie wiederum erst nach Leipzig. Dort wegen der jüdischen Herkunft abgelehnt, zog die Familie in das vergleichsweise liberale Wien (Alt 2016, S. 20 ff.). Freuds Erinnerungen, wie sein Vater im galizischen Freiberg entwürdigt wurde, sind bekannt. Mit Sicherheit prägten diese Erfahrungen von Flucht, Ausgrenzung und Assimilation Freuds Faszination gegenüber dem „Ausland“, das sowohl Versprechen und Rettung, aber auch das Risiko von erneuter Ablehnung und Hass bedeuten konnte. Das Unbewusste ist das Paradebeispiel für eine ambige Struktur: Es ist das „innere Ausland“, das die menschliche Existenz, wohl sogar deren ontologischen Status (so eindeutig das Ich sich auch immer geben mag), ambige, vieldeutig und undurchsichtig gestaltet. Durch die Lacansche Spaltung des Subjekts (in ein „sujet barré“) wird dieses ambige, wodurch sich eine Grundstruktur der Ambiguität realisieren lässt. Das Ich ist aber auch von Ausland umgeben. Dann ist die Frage, wie hoch sich die Ambiguitätstoleranz gegenüber dem Ausländischen, etwa dem Es oder Unbewussten, demnach gegenüber dem Anderen (einschließlich der anderen Kultur) zeigt. Ambiguitätstoleranz bedeutet also, dass das Ich sowohl die äußere, soziale wie die innere, verdrängte oder unbewusste Wirklichkeit anerkennt, und seine Vielgestaltigkeit, seine Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit zu ertragen bereit ist. Ambiguitätsintolerant ist das Ich, wenn es diese Vielgestaltigkeit nicht erträgt. Es versucht dann, Vieldeutigkeit auf Eindeutigkeit, Hybridität auf eine monolithische Lebensauffassung oder Lebensstil zu reduzieren.

 

4.3. Grenzen der Studie

Eine wesentliche Begrenzung der Studie stellt die Auswahl unserer Proband*innen dar. Trotz unserer Bemühungen, eine soziale Stratifizierung herzustellen, besteht dennoch ein sozialer Bias (fast drei Viertel der Proband*innen entstammen einem akademischen Kollektiv). Diese Schwierigkeiten, auch Proband*innen aus sozial weniger integrierten Milieus für eine Studienteilnahme zu gewinnen, werden als typisch beschrieben (vgl. Rau et al. 2020). Unsere Ergebnisse beschränken sich deswegen auf eine Gruppe junger, eher gebildeter Migrant*innen, die überwiegend aus klassisch triadischen Familienstrukturen stammen.

 

5. Fazit

Trotz dieses sozialen Bias konnten wir zentrale Einsichten in die Dynamik der Ambiguität gewinnen. In der deutschen Gesellschaft ist ein heterogenitätsunfähiges und pluralitätsfeindliches Islambild entstanden. Entgegen allen historischen Tatsachen blendet dieses konstruierte Feindbild die innerislamische Pluralität und die Ambiguitätstoleranz aus, welche eine vielfältige muslimische Lebensrealität über viele Jahrhunderte widerspiegelt. Unsere Gespräche mit den jungen Muslim*innen vermitteln einen wichtigen Einblick in die Schwierigkeiten, die das Erleben von Ausgrenzungen und das Ringen um Ambiguitätstoleranz mit sich bringen. Menschen unterscheiden sich wesentlich in ihrer Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz, welche ihren Ursprung in liebevollen, konsistenten und gratifizierenden frühen Beziehungserfahrungen erkennt. Dadurch entsteht eine Toleranz, die Andersartigkeit des Fremden anzuerkennen und nicht als negative Projektionsfläche, sondern als Quelle für die eigene Weiterentwicklung zu begreifen. Dabei scheinen die Entwicklung und das Beibehalten einer Neugier, das Fremde zu entdecken, essenziell, auch weil sich in dieser immer ein kleiner Teil unserer Selbst spiegelt. Wenn sich die Kulturen dementsprechend als Varianten verstehen, die keine übergeordneten Strukturen produzieren, kann die Annahme des „Subjekts als Vielheit“ (Nietzsche 1999 [1885], S. 650) möglicherweise in Zukunft gelingen.

 


Literaturverzeichnis

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Žižek, Slavoj (2015): Blasphemische Gedanken: Islam und Moderne. Berlin: Ullstein.

 


Anhang 
Tabelle: Codebuch

Strukturale Codes (in alphabetischer Ordnung)

 

Geringe Ambiguitätstoleranz

Definition

Es wird von einer geringen Ambiguitätstoleranz, z.B. im Zusammenhang mit religiösen Radikalisierungstendenzen berichtet. Diese zeigt sich in dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit und dem Ausschluss bzw. der Entwertung konkurrierender Kulturen bzw. Lebensstile (Bauer, 2011). Radikalität zeigt sich über die Präsentation einer libidinös stark besetzten Ideologie, die auf einer nichtambiguen Haltung beruht (Benslama 2017).

Ankerbeispiel 1

„Ich habe gedacht, ich bin immun dagegen, weil ich mehr oder weniger rational rangehe. Aber ich war in deren System und ich habe dann Sachen übersehen, die ich normalerweise nicht übersehen hätte. Ich habe immer gedacht, das passiert dir nicht, das mit der Radikalisierung, aber letztendlich war es so, dass sie mich für ihre eigenen Zwecke verwenden wollten.“

Ankerbeispiel 2

„Ich glaube es ging nicht darum, dass ich mir irgendwas geholt habe, sondern, dass ich ein falsches Verständnis hatte. Also ich konnte es leichter nachvollziehen, also es wurde immer so rübergebracht, das ist richtiger als das andere und ja, dadurch habe ich mich verändert.“

 

Hohe Ambiguitätstoleranz

Definition

Es wird von einer hohen Ambiguitätstoleranz berichtet. Die Ambiguitätstoleranz beschreibt das Aushalten von Vieldeutigkeit und Vagheit (Bauer 2011). Es werden divergierende und ggf. konkurrierende Kulturen, Normen und Lebensstile akzeptiert. Im Rahmen psychoanalytischer Konzepte wird Ambiguitätstoleranz den IchFunktionen (Mertens 2015) zugerechnet.

Ankerbeispiel 1

„Und da haben meine Eltern sehr intensiv darüber gesprochen, dass es auch andere Religionen gibt: du darfst dich entscheiden, du bist ein freier Mensch.“

Ankerbeispiel 2

„Und da habe ich auch meine eigenen Prinzipien, ich habe meinen Glauben und ich habe auch dementsprechend meine Ziele und ich finde vor allem auch, dass ich hier in Deutschland als eine Person gesehen werde die etwas anders ist, auch die Möglichkeit habe mich zu zeigen, auch weil ich besonders bin auch Spuren hinterlassen kann.“

 

Offene Codes (in alphabetischer Ordnung)

 

Ambivalenz

Definition

Ambivalenz ist ein Gefühl oder eine Einstellung der Zerrissenheit gegenüber einem bestimmten Gegenstand, etwa gegenüber der Kultur oder unterschiedlichen Lebensstilen (Bauer 2011). Aus dieser entwickelt sich ein Spannungszustand.

Ankerbeispiel 1

„Es war immer ein hin-und-her bei mir. Ich habe mich wirklich nie deutsch gefühlt, zu keinem Zeitpunkt meiner Jugend, Kindheit, gar nicht! Türkisch habe ich mich auch nie gefühlt, aber nicht so. Also ich habe mich Türkisch gefühlt, aber nicht so wie die Türken in der Türkei, das ist ein großer Unterschied.“

Ankerbeispiel 2

„Manchmal bleibe ich ruhig und manchmal bin ich aufbrausend, das ist sehr unterschiedlich.“

 

Interpersoneller Konflikt

Definition

Es wird von einer emotionalen Spannung im Rahmen eines interpersonellen Konflikts berichtet, z.B. wird das Aufeinanderprallen divergierender Auffassungen zwischen verschiedenen Personen beschrieben.

Ankerbeispiel 1

„Und das ist schmerzhaft, das ist, ich sag mal, sehr anstrengend, sehr zermürbend. Es gab schon echt sehr oft Momente, wo ich mir dachte ich kann das nicht mehr, wo ich in Tränen, ich bin wirklich so in Tränen ausgebrochen und dachte mir: ich kann das nicht mehr, ich kann nicht mehr streiten. Aber dann steht man wieder auf und sagt ok, ich will nicht so leben, dann muss ich auch weitermachen. Dann boxt man sich halt so durchs Leben.“

Ankerbeispiel 2

„Ich möchte nicht das Kopftuch, ich möchte auch gerne mal meine Haare schön machen, ich möchte mich auch mal schöner schminken. Irgendwann bin ich geplatzt und habe gesagt, ich möchte das nicht mehr. Wobei die Mama dann natürlich meinte: nein, das machst du nicht.“

 

Mangel an Halt

Definition

Das Gefühl des Mangels an Halt beschreibt einen Mangel an innerer Festigkeit, welches meist mit einem fehlenden seelischen Halt einhergeht und einen Leidensdruck entstehen lässt.

Ankerbeispiel 1

„Wie gesagt, der Anfang war schwierig, in der Kindheit. Also da weiß man die klare Grenze halt nicht. Das ist Deutsch. Das ist Türkisch. So, das kennt man. Das ist nicht einfach für Jemanden. “

Ankerbeispiel 2

„Durch Stress bin ich immer ohnmächtig geworden. Ich war wie in… ja, wie in einem schwarzen Loch. Ich wusste nicht wer ich bin, ich wusste nicht was ich mache, ich wusste nicht, ob ich mein Abitur schaffe, ich wusste nicht, ob ich diese zwölfeinhalb Jahre, die ich jetzt geackert habe, ob das alles überflüssig war und da weiß man dann nicht wo rechts und links ist.“

 

Religiöse Themen

Definition

Es wird über religiöse Themen bzw. Religiosität berichtet, z.B. über Glauben, religiöse Traditionen, Rituale, Gebete oder das Verhältnis zu anderen Gläubigen bzw. religiösen Gemeinschaften oder auch zu Gott.

Ankerbeispiel 1

„Ich habe meinen Glauben.“

Ankerbeispiel 2

„Das Türkische… ich kann die Religion nicht so gut von der türkischen Kultur abgrenzen.“

 

Stigmatisierung

Definition

Stigmatisierung ist das Ergebnis einer häufig rassistischen Entwertung bzw. Diskriminierung, die vor allem das Selbsterleben des Betroffenen bestimmt. Von Kardoff (2010, S. 3) beschreibt Stigmatisierung als einen Vorgang „nur schwer umkehrbarer klassifizierender Zuordnung von Personen seitens der Mehrheitsgesellschaft“.

Ankerbeispiel 1

„Aber dieses Isoliertheitsgefühl kommt auch, das sind so ganz kleine subtile Dinge… wenn sich in der Bahn Jemand wegsetzt, wenn ich auf der Straße komisch angeguckt werde, oder komisch angesprochen werde, solche Sachen.“

Ankerbeispiel 2

„Wenn es ums Gewinnen geht, macht man`s gemeinsam, aber wenn man verliert, sucht man sich dann irgendwie das schwächste Glied, was dann irgendwie auch ganz zufällig auch noch irgendwie ein Deutsch-Türke ist. Integration soll passieren, aber… es ist halt so schwierig.“

 

Wertschätzung

Definition

Mit Wertschätzung lässt sich eine positive Bewertung eines anderen Menschen, eines Gegenstandes, eines Landes oder einer Kultur beschreiben (Rohr 2017; Klein 1957). Diese wird als weitgehend unabhängig von einer erbrachten Leistung erlebt.

Ankerbeispiel 1

„Mein Vater ist auch ein sehr charakterstarker Mensch, auf jeden Fall, sehr selbstsicher in dem was er tut und was er macht.“

Ankerbeispiel 2

„Es ist eigentlich ein sehr schönes Gefühl. Weil ich da einfach das Gefühl habe, da habe ich etwas, was andere nicht haben.“