Hilmar Schmiedl-Neuburg

Y – Z Atop Denk 2023, 3(2), 3.

Abstract: Zehn Haiku, mit einem Nachwort zur japanischen Ästhetik.

Keywords: Haiku, Japanische Ästhetik und Poetik, Zen

Veröffentlicht am: 28.02.2023

Artikel als Download: pdfZehn Haiku, mit einem Nachwort

 

 

Des Wassers Plätschern,
Morgenlicht bricht sich im Strahl –
Tee in der Tasse.

 

Es geht ein Lufthauch,
im Wind flackert die Flamme –
Schatten erwachen.

 

Ein kühler Windhauch –
kleine Schneeflocken knistern
auf einer Jacke.

 

Kinderrufe im Park –
Ein Baumstumpf voll grünem Moos
Am Rand des Weges.

 

Eisschollen im Teich –
Frühlingsvögel zwitschern hell
dort in den Zweigen.

 

Die Sonne golden
hinter den schattenschwarzen
Bäumen still versinkt.

 

Sonn‘licht golden wärmt
die kleinen grünen Blätter –
frische klare Luft.

 

In kalter Stille –
Weiße Früchte leuchten hell
Im braunen Gezweig.

 

Nachtschwarze Bäume,
Rotflammender Horizont –
Stille des Morgens

 

Strahlende Sonne
Durchfunkelt den Blätterwald –
Lindgrünes Leuchten

 

 

Nachwort

Die japanische Gedichtform des Haiku1 (俳句) zeichnet sich durch Kürze2, Konkretheit, Gegenwärtigkeit, impressionistische Offenheit und einen kontemplativen Charakter aus. Ein Haiku gibt meist prägnant einem bestimmten, konkreten, zeitlos anmutenden Moment Ausdruck, in dessen Erleben Natur und Dichter ununterschieden sind. Das im Haiku gegenwärtige Naturereignis hat dabei gewöhnlich einen jahreszeitlichen Bezug. Seine thematische Bevorzugung der Natur teilt das Haiku-Genre mit der japanischen und chinesischen Malerei, welche Landschaft und Natur in den Mittelpunkt ihres ästhetischen, religiös-philosophisch inspirierten Schaffens rücken, ebenso wie mit dem Daoismus (vgl. Willis 2000) und dem Shintō.

Im Haiku kommen verschiedene Charakteristika japanischer Ästhetik3 zum Tragen. Im Jahreszeitenbezug (kigo4) zeigt sich mono no aware, das, im griechischen Sinne, Pathos der Dinge, das sich der Impermanenz (mujō), dem Wandel und der Vergänglichkeit alles Seienden (buddh. pal. anicca), verdankt, die den Dingen, z.B. einer Kirschblüte, eine eigene, bittersüße, das flüchtige Leben feiernde Schönheit schenkt und die der Betrachter in seinem Gewahrsein mit sensiblem Mitgefühl, sanftem Wehmut und stillem Einverständnis begleitet.5;6

Viele Haiku lassen denn auch motivisch sabi, eine Patina des stillen, schönen Alterns, Abgenutztwerdens, Verwitterns und Reifens der Dinge (und Menschen) anklingen, welche oft mit sabishi, stiller Einsamkeit und Abgeschiedenheit, etwa in der Natur, so besonders bei Matsuo Bashō (1644-1694), dem größten Dichter des Haiku verbunden ist.

sabi ist im japanischen Verständnis tief verbunden mit wabi als wabi sabi, eine Ästhetik des Unvollkommenen, Unvollständigen und Flüchtigen. wabi manifestiert sich in einem Haiku etwa in dessen Offenheit und Imperfektion. Alles ist im Wandel, im Fluss der Dinge gibt es keine Vollkommenheit, keine Perfektion, keine Geschlossenheit. Nur das Unvollkommene, Unzulängliche und das Werdende, im Entstehen und im Vergehen Befindliche7, das Offene und Unabgeschlossene sind so in Harmonie mit der Natur der Dinge und wabi bezeichnet deren einfache, gleichmütige Schönheit, die sich in ihren Unvollkommenheiten, Rauheiten, Unregelmäßigkeiten (fukinsei), Brüchen und Fehlern offenbart. wabi akzentuiert so die Anspruchslosigkeit, Einfachheit (kanso), Natürlichkeit (shizen), Unbehauenheit (p’u), das So-Sein der Existenz (budhh. sanskr. tathātā)8, welches in einem Kunstwerk, wie einem Haiku, zum Ausdruck kommen kann.

shibui bzw. shibusa ist in dieser Hinsicht dem wabi verwandt, als es minimalistisch-ästhetisch die Schlichtheit und Einfachheit eines Kunstwerks oder -gegenstandes betont, in dieser Schlichtheit aber auch subtil und fein Komplexität offenbart.

yohaku no bi, die Schönheit des übrig gebliebenen Weiß, akzentuiert hingegen die Offenheit des wabi, zeigt sich in der Malerei im Unsichtbaren, der Leere unbemalter Weiße, in der Dichtung, etwa des Haiku, im Ungesagten und Unsagbaren. yohaku no bi deutet eine Tiefe und Verborgenheit des So-Seins der Dinge an und verweist so bereits auf das folgende Motiv.

Denn dieses So-Sein zeigt sich ebenfalls in einem weiteren, verwandten ästhetischen Moment, yūgen, geheimnisvoll-tiefer Anmut. In der Offenheit des Kunstwerks, die wabi sabi beschreibt, kann sich zugleich, etwa im yohaku no bi, wenn auch unscharf und vage, eine verborgene Unbegrenztheit und Freiheit, eine erhabene, uns übersteigende Leere und existentiale Tiefe andeuten, eine feine Anmutung von Ruhe und Stille (seijaku), profundem Dunkel und Geheimnis, die uns berührt, ergreift, ruft und nachsinnen lässt, ohne dieser Erfahrung im Worte wahrhaft gerecht werden zu können. Die Anmut dieser Erfahrung grundloser Tiefe, enigmatischer Entzogenheit, fruchtbarer Leere und Potentialität, einer Transzendenz in der Immanenz, erhaben, subtil, unsichtbar und unsagbar, ist, was yūgen bezeichnet. In yūgen sind Darstellung und Dargestelltes verschmolzen.

kireji, eine Schneidesilbe, die im Japanischen das Haiku in zwei Teile trennt und so verbindet und im Deutschen oft als „ – “ erscheint, verleiht hingegen kire, dem Schnitt, Ausdruck. kire ist ein zentraler Topos der Rinzai-Schule des Zen, dessen von Meister Hakuin hervorgehobene ästhetisch-philosophisch-religiöse Dimension, das Abschneiden der Begehrenswurzel, Nishitani Keiji (1995) am Ikebana beleuchtet. Der geschnittene Moment lässt das So-sein der Dinge (budhh. sanskr. tathātā) erscheinen, so wie sie sich von sich selbst her geben oder zeigen.9 Daher verzichtet das Haiku weitgehend auf Metaphorik und symbolische Sprache, und versucht stattdessen der Nacktheit der Dinge Ausdruck zu verleihen, ohne ihre Leerheit (budhh. sanskr. śūnyatā) mit Sinn auszufüllen und ihr So-Sein mit Bedeutung zu verschleiern.10 So wie des dào Leerheit yin und yang aus sich gebiert, entlässt kire, des Schnittes Leere die beiden Seiten des Haiku und gibt ihm so eine diskontinuierliche Kontinuität (kire tsuzuki).

Diese ästhetischen Charakteristika machten das Haiku zu einer wichtigen Ausdrucksform des vom Daoismus inspirierten Zen-Buddhismus11 und zu einem , einem Weg der performativen Selbstkultivierung.12 Dies zeigt sich etwa im wu wei-Charakter vieler Haiku, dem Nicht-Handeln oder der Spontaneität ihres Dichtens, insotief der Dichter sich gleichsam dem Dichten des Haiku durch die Natur überlässt und sich so in diese einlassend in eine tiefere Harmonie mit dem dào bringt. Die Spontaneität, das Augenblickshafte des Haiku, in dem Natur und Dichter, Objekt und Subjekt, Allgemeines und Einzelnes, ununterschieden13 sind, kann dann, gleich dem kensho des Zen, Wahrheit, plötzliches Erkennen aufblitzen lassen. Dem Zen ist das Haiku mithin ein Weg des jikishi ninshin, des direkten Aufweisens des unsagbaren Wesens des Geistes/Seins/Nichts.

 


1 Zur Gedichtform und Poetologie des Haiku vgl. Reginald Horace Blyths Grundlagenwerk Haiku (1981 [1949-1952]) in vier Bänden.

2 Meist ein nichtreimender Dreizeiler mit einem Moren- bzw. im Westen Silbenmuster von 5-7-5 oder kürzer.

3 Vgl. zur japanischen Ästhetik und ihren Grundbegriffen grundlegend Parkes und Loughnane (2018). Vgl. zu Parallelen in der daoistischen Ästhetik Willis (2000).

4 Fremdsprachliche Begriffe ohne Kennzeichnung der Ursprungssprache sind Japanisch (und im Fall von dào, yin und yang sowie wu wei, hseng sheng und p’u Chinesisch).

5 Hinsichtlich des Gewahrseins der bittersüßen Vergänglichkeit der Dinge ist dem mono no aware das Prinzip miyabi verwandt, das aber ansonsten eher verfeinert-höfisch-elegante Konnotationen aufweist.

6 Im Zen wird mujō besonders im Werk Meister Dōgens hervorgehoben (vgl. Thompson 2012).

7 Vgl. für eine weitere Facette dieses Fließens der Dinge, das ihre Interdependenz herausstreicht, das daoistische hseng sheng, das gegenseitige Entstehen von yin und yang, und das mahāyāna-buddhistische sanskr. pratītyasamutpāda, das abhängige, durch pal. anicca und annata gekennzeichnete, Entstehen, welche doch beide sich aus der Leerheit des dào bzw. sanskr. śūnyatā erheben. Vgl. Thompson (2012).

8 tathātā ist im Zen ein anderer Ausdruck für bussho, die Buddhanatur allen Seins/Nichts (vgl. auch sanskr. tathāgatagarbha, der Buddhaschoß, als Ausdruck für die Natur aller Dinge, während der Buddha als der tathāgata, der ist, der (hinüber) gegangen ist (tathā-gata), der ist, der gekommen ist (tathā-āgata), der ist, der nicht gegangen ist (tathā-agata)).

9 Ob dieser heideggerianisierenden phänomenologischen Ausdrucksweise sei an dieser Stelle auf die Parallelen insbesondere der späten Seinsphilosophie Heideggers und des Zen wie auch des Daoismus hingewiesen, denen Heidegger in Gesprächen mit seinen japanischen Schülern von Kuki bis Nishitani nachgedacht hat. Vgl. hierzu Parkes (1987).

10 Vgl. hierzu Roland Barthes‘ Kritik westlicher Lesarten des Haiku, welche dieses mit Sinn versuchen zu durchtränken, um es sodann mit Interpretationen und Deutungen zu traktieren, statt es wie ein zen-buddhistisches kōan zu behandeln, dessen Aufgabe es ist, Sinn zu erschüttern und zerbrechen zu lassen (Barthes 1981, S. 98).

11 Vgl. zur Poetik des Zen und Zen-Haiku Hamill und Seaton (2007).

12 Vgl. andere ästhetische (und zugleich ethisch-philosophisch-meditative) Selbstkultivierungspraktiken (geidō), ‚Wege‘ wie die Kampfkünste (budō, z.B. jūdō), Kalligraphie (shodō), Blumensteckkunst (kadō) oder Teezeremonie (sadō). Die Idee der Selbstkultivierung fand, unbeschadet ihrer daoistischen Variationen, ihren Ursprung im Konfuzianismus. Vgl. Carter (2007).

13 Dieses Verschwinden des Selbst bzw. die Realisierung des Nicht-Selbst, wie es der Zen-Buddhismus bezeichnet, ist ein Grund, weswegen ästhetische Motive, wie iki, die, zumindest oft, Charakter und Handeln eines Menschen beschreiben, im Haiku weniger zum Tragen kommen.

 

Literaturverzeichnis

Barthes, Roland (1981): Das Reich der Zeichen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Blyth, Reginald Horace (1981 [1949-1952]): Haiku. Four Volumes. Volume 1: Eastern Culture. Volume 2: Spring. Volume 3: Summer-Autumn. Volume 4: Autumn-Winter. Tokyo/San Francisco: The Hokuseido Press/Heian International.

Carter, Robert E. (2007): The Japanese Arts and Self-Cultivation. Albany: State University of New York Press

Hamill, Sam und Seaton, Jerome P. (2007): The Poetry of Zen. Boulder: Shambala.

Nishitani, Keiji (1995): “The Japanese Art of Arranged Flowers.”. In: Solomon, Robert C. und Higgins, Kathleen M. (Hg.) (1995): World Philosophy: A Text with Readings. New York: McGraw Hill.

Parkes, Graham und Loughnane, Adam (2018): "Japanese Aesthetics". In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2018 Edition). Edward N. Zalta (Hg.). https://plato.stanford.edu/archives/win2018/entries/japanese-aesthetics/ [12.02.2023].

Parkes, Graham (Hg.) (1987): Heidegger and Asian Thought. Honolulu: University of Hawai’i.

Thompson, Mel (2012): Eastern Philosophy. London: Hodder Education.

Willis, Ben (2000 [1987]): The Tao of Art. The Inner Meaning of Chinese Art and Philosophy. Lincoln: An Authors Guild Backbprint.com Edition.

 

Autor:in: PD Dr. Hilmar Schmiedl-Neuburg, ist Privatdozent am Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Faculty am Department of Philosophy der University of Massachusetts Boston. Zu seinen beruflichen Stationen gehören Vertretungsprofessuren, Gastdozenturen und Fellowships in Kiel, Hamburg, Wien, Berlin, Prag, Boston und Harvard in den Gebieten Philosophie bzw. Psychotherapie. Er ist Dozent am John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse, Kiel, und Gestalttherapeut in freier Praxis.