Evelina Jecker-Lambreva

Y – Z Atop Denk 2022, 2(1), 3.

Veröffentlicht: 25.01.2022

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Das Wichtigste auf dieser Welt1

Du musst irgendwo ganz in der Nähe sein,
wenn die weiße Pfingstrose explodiert
nach der Regenzeit im Frühling,
um zu sehen, wie siegreich
das Licht zurückkehrt
aus der Etappe des Winters.
Wenn in deine geöffneten Hände
ein summender Käfer fliegt,
wirst du verstehen:
das Wichtigste auf dieser Welt ist,
dass es dich gibt.

 


 

Weisser Tod

Jage ich fort von mir
die Bienen, Grillen, Spechte und Sterne,
die liegen im Duft meiner Hände,
lasse ich austrocknen die reißenden Flüsse,
aus denen bei der Heimkehr trinken
die Pferde meiner Träumereien,
wenn ich das Rauschen meiner Regenharfen unterbreche,
die Winde in mir zum Schweigen bringe
und meine Ufer zum Verstummen,
dann wird der reglose Winter mich überschneien.
In meinem weißen Tod werde ich hören, wie
die Dachrinnen
anschaukeln
des Frühlings
Glocken.
Und ich werde mich fragen:
Bin ich es, oder nur ein Traum,
geträumt
in einem
noch ungewordenen
Jenseits?

 


 

Niemandes Spiegel

Ich möchte niemandes Spiegel sein,
obwohl ich ständig jemandem den Spiegel vorhalte.
Ich möchte kein Wächter von Illusionen sein,
obwohl ich stets die eigenen wahre, –
wenigstens bis sie mich im Korridor erschrecken
und ihren wahren Namen verraten.
Ich möchte nicht der beißende Rauch
über dem fälschlich angezündeten Strohbündel sein,
obwohl meine Fußsohlen angeschmort sind
und ich schon einer Feuertänzerin ähnele.
Ich will auch kein Haustierchen sein –
keine faule Katze, kein Kanarienvogel im Käfig
und kein Fisch in der Aquariumslandschaft.
Doch wenn ich mich einmal nicht erkennen sollte,
dann ist ganz sicher der Spiegel daran schuld.

 


 

Meine Mutter

Meine Mutter –
eine mitternächtliche Geige,
die den Mond zum Schlafen bringt.
Meine Mutter –
eine wütende Sense im Sommer,
wenn der Klee seine Blätter entfaltet.
Meine Mutter –
die harte Hand des Lebens,
die mich über knarrende Stege führt.
Meine Mutter –
eine Trauerweide über dem Fluss:
ihre Augen laufen aus,
dem Wind hinterher
mit dem geschulterten Bündel Erinnerungen.
Meine Mutter –
eine Begonienblüte,
die ihren Kopf hängen lässt im Herbst,
wenn die Schwalben fortfliegen.
Meine Mutter…
Wer ist diese Frau?

 


 

Der alte Birnbaum

Vor meinen Augen siecht der alte Birnbaum dahin –
selbst die Vögel lassen sich nicht auf ihm nieder.
Keine Blüten mehr erwärmen ihn im späten Frühling,
keine Blätter bedecken seine nackte Gestalt.
Den stummen Schmerz in sich eingeschlossen,
beugt er machtlos seinen Rücken unter dem Himmel.
Nachts träumt er von Menschen mit Sägen.
In der Erde schaudern die entkräfteten Wurzeln.
Ein Schatten nur noch: beklemmende Erinnerung
nagt unaufhörlich in seinem Herzen.
Der Wind knarrt in trockenen Ästen.
Draußen im Hof – der alte Birnbaum stirbt.

 


1Sämtlich aus: Jecker-Lambreva, Evelina (2015): Niemandes Spiegel. Duisburg: CHORA Verlag. Veröffentlicht im Y am 25.01.2022.

 

Autor:in: Evelina Jecker-Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung.