Psychoanalytische und Pastoralpsychologische Erkundungen

Horst Kämpfer

Y – Z Atop Denk 2022, 2(5), 2.

Abstract: Durch die Gedanken von Konrad Paul Liessmann angeregt tritt der Autor in einen persönlichen Dialog mit Friedrich Nietzsche und seinem „trunkenen Lied“. Dabei entsteht zwischen Autor und Philosoph ein Kunstraum, in dem, nach dem Motto „soweit die Worte reichen“ ein Sprachbild oder eine Sprachkomposition kreiert wird. Diese Art des Schreibens ist von der Überzeugung getragen, dass man Nietzsche, dem Vordenker aller Tiefenpsychologie, nur auf diese Weise nah sein kann.

Keywords: Friedrich Nietzsche, Konrad Paul Liessmann, Tiefenpsychologie, Pastoralpsychologie, Sprache

Veröffentlicht: 30.05.2022

Artikel als Download: pdfMitternächtliche Versuchungen

 

1. Vorspiel

Lou Andreas-Salomé schreibt am Anfang ihrer Biographie über Friedrich Nietzsche: „Denn der Werth seiner Gedanken liegt nicht in ihrer theoretischen Originalität, nicht in dem, was dialektisch begründet oder widerlegt werden kann, sondern durchaus in der intimen Gewalt, mit welcher hier eine Persönlichkeit zur Persönlichkeit redet … all sein Erleben war ein so tief innerliches, dass es sich nur im Gespräch, von Mund zu Mund, und in den Gedanken seiner Werke kundthat“ (Andreas-Salomé, 2013, S. 5). Andreas-Salomé hat hier etwas im Sinn, was ca. fünfzig Jahre später Donald W. Winnicott als jenen potential space beschreibt, in dem Kulturelles, Schöpferisches oder auch Religiöses sich entwickelt (auswickelt und entsteht).1 Nietzsches Werk ist keine Weisheit im Schrank. Er sucht das Gegenüber, nicht als Bewunderer, nicht als narzisstisches Selbstobjekt, sondern als einen wirklich Anderen, getrennt und verbunden, kritisch und liebevoll, fremd und vertraut zugleich. Wer Nietzsches Texte als wissenschaftliche Objekte seziert und analysiert, bringt sich um die Möglichkeit, im Zwischenraum zwischen ihm selbst und Nietzsche noch Ungeahntes zu entdecken.

Man muss in ein Gespräch mit Nietzsche eintreten, vielleicht, um auch ihn etwas besser zu verstehen, aber mehr noch und wahrscheinlich sogar zugleich, um sich selbst ein wenig besser zu verstehen und neue Erfahrungen zu machen. Nietzsche betreibt eine gewisse Form der Selbstanalyse, in einer manchmal brutal anmutenden Ehrlichkeit, die wiederum anstecken will. Ich versuche dem zu folgen, indem ich in ein Gespräch mit dem „trunkenen Lied“ aus Also sprach Zarathustra eintrete.

„Also sprach Zarathustra“; sofort sind Töne im Ohr. Diese durch Nietzsches Werk inspirierte Komposition von Richard Strauss ist gerade mit ihren Fanfaren in den Eingangstakten als Auftritts- oder auch Eröffnungsmusik sehr beliebt und enorm beeindruckend. So steigt auch Konrad Paul Liessmann (2021) in seine aufrührende und aufregende Arbeit über „Das trunkene Lied“ – auch „Nachtwandler-Lied“ oder „Mitternachtslied“ genannt – ein. Der metaphern- und symbolreiche Liedtext reizt ebenso zur Vertonung und hat ‚seinen‘ Komponisten gefunden: zu hören in der dritten Symphonie von Gustav Mahler. In diesem, den „Zarathustra“ beschließenden Lied, kommen wohl sehr viele der zentralen Gedanken der psychologischen Philosophie von Friedrich Nietzsche zusammen. Wie schon Arthur Schopenhauer so bereitet in seiner Nachfolge Nietzsche die Gedanken von Sigmund Freud vor.2

Das Buch von Konrad Paul Liessmann soll im Folgenden als Leitfaden dienen, weil es in seiner kreisenden Nachdenkarbeit gerade für Psychoanalytiker:innen und Pastoralpsycholog:innen Grundgedanken zu vertiefen hilft. Dies soll aber nicht auf einer metapsychologischen und konzeptionellen Ebene geschehen, sondern gleichsam als Bericht einer Erkundung zu Mensch und Psyche; eine Erkundung, die – selbst wiederum von dem „musikalischen“ Text angeregt – ein Bild aus Worten entwirft, soweit eben die Worte reichen (vgl. Safranski, 2020, S. 210).

 

2. Das trunkene Lied

Man muss sich eine Szene vorstellen. Es ist Nacht, man begegnet sich, man begegnet sich, mehr oder weniger trunken, es entsteht eine Stimmung zwischen Ernst und Albernheit, zwischen mir und dir entsteht etwas, man bewegt sich in einem Zwischenraum, vielleicht einem „intermediären Raum“, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem einen und dem anderen Tag, zwischen Realität und Fantasie, zwischen doch schon und noch nicht, zwischen unbewusst und bewusst oder eben zwischen „Wahn und Wirklichkeit“ (Scharfenberg, 1972). Wohl nur in diesem Zwischen, dieser latenten Verrücktheit, teilt sich etwas mit, hat man ein Ohr für die Mitternachtsglocke, „die mehr erlebt hat als ein Mensch: welche schon eurer Väter Herzens-Schmerzens-Schläge abzählte“ (Nietzsche, 1990, S. 354). Wer also Ohren hat zu hören, der höre. „– hörst du’s nicht, wie sie heimlich, schrecklich herzlich zu dir redet, die alte tiefe tiefe Mitternacht! O Mensch, gib acht!“ (ebd.).

Elf Glockenschläge, elf Gedichtzeilen, von denen jede einzelne es wahrlich in sich hat. „Mitternächtliche Versuchungen“, von denen man sich versuchen lassen kann, nicht ganz furchtlos, man ahnt den Sog. „Oh Mensch! Gieb Acht!“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 27) Nietzsche, Zarathustra, die Nacht, die Glocke, das Leben, sie meinen wohl mich mit dieser Ansprache zwischen Vokativ und Appellativ. Welche Klangfarben kommen über die beiden Ausrufezeichen an mein Ohr. Ist es warnend, ermunternd, hämisch, arrogant … schwer zu sagen. Hier kommt etwas auf mich zu, was meine Abwehrformationen erschüttern könnte, die Sicherheiten aufweichen; nicht, weil ein irgendwie gearteter Anderer oder ein Anderes das beabsichtigen würde, es wird einfach so sein. Lässt man sich auf die Versuchung ein, stimmt man gewissen Entgrenzungen zu (vgl. Safranski, 2020, S. 59).

Allein das „oh“, dieser dazwischen geworfene Laut, durch das h mal mehr, mal weniger langgezogen, erinnert Liessmann u.a. an „O Mensch, bewein dein Sünde groß“. Schon möchte man selbst mit einem „oh je“ antworten; diese Abgründe also könnten sich in „nächtlich überwache Seelen“ (Nietzsche, 1990, S. 354) schleichen, aus welchen Tiefen auch immer kommend. Ich, der ich gemeint bin, der Mensch, „ist, relativ genommen, das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichste(n) abgeirrte – freilich, mit alle dem, auch das interessanteste“! (zit. nach Liessmann, 2021, S. 32) In dieser Klarheit und Ehrlichkeit steckt sogar etwas Hoffnung, aber, man wird das „Interessante“ nicht ohne das „Missrathenste“ haben können. Darf ich als das Missratenste gesehen werden? In der Regel projizieren wir unseren inneren Allesseher „Über-Ich“ nach außen und versuchen, ihn dort zu erschlagen oder zu kreuzigen (vgl. Kämpfer, 2015, S. 182-195). Versuchen wir es einmal anders und lassen das Licht an.

Der Versuchung folgend wird es wohl eine Wanderung in bisher nicht ausgeleuchtete „Tiefen“ werden. Eine gewisse Angstlust kommt auf. Ich will achtgeben, aufmerksam und vorsichtig sein. Thomas Mann hat am Anfang seines Romans Josef und seine Brüder dieses Tor aufgestellt: „Vorspiel: Höllenfahrt. Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Sollte man also besser die Finger davonlassen, das ganz eigene „Senkblei“ besser nicht benutzen (Mann, 2003, S. 11)? Aber die Glocke seufzt schon, die Mitternacht spricht … „was spricht die tiefe Mitternacht?“ (Nietzsche, 1990, S. 355).

Das Tor ist durchschritten, der Raum, ein Zwischenreich, schon betreten. Man ahnt, hier wird man nicht als derselbe herauskommen, vielleicht ähnlich dem Samenkorn, das sterben muss, um neue Frucht zu bringen. Eine Glocke läutet zu so vielen Anlässen: Herzensschläge auf der einen und Schmerzensschläge auf der anderen Seite. Oder klingen in den Tönen der einen Seite immer die der anderen mit? Die Mitternachtsglocke hat einen besonderen Ton. Sie deutet eine Schwelle, eine Wende, vielleicht einen Zwischenraum zwischen dem einen und dem anderen Tag, Monat oder Jahr an. Ich weiß wohl, wenn es Nacht wird um mich herum und in mir drin, wenn die Nachtwächter selbst – innen wie außen – vor Müdigkeit halb weggesunken sind, versucht sich ein „Wissen“ Raum zu verschaffen, das sonst nur blinde Seher zu ahnen vermögen. Wir sollen etwas hören; jenes schon im Uterus aktive Organ ist hier angesprochen. Schma Jisrael heißt die Aufforderung, die aus der Tiefe des Brunnens kommt, die von einem Wissen über Herz und Schmerz durch die Zeiten gerufen wird. Es tönen Geschichte und Geschichten von großer Liebe, großem Zorn, großer Verzweiflung, großer Einsamkeit und Verlorenheit, großer Besorgnis, von Hunger, Tod und süßem Leben, von Verruchtheit und unfassbarer Grenzüberschreitung – es sind Geschichten meines eigenen Lebens aber eben auch die Geschichten meiner Väter und Mütter, ihre und meine Schmerzens- und Herzensschläge, die sich hier verweben. Da könnte etwas erwachen, wenn man 1948 geboren wurde (vgl. Kämpfer, 2021, S. 105-109). Oh Mensch, gib acht!

Aber: „Ich schlief, ich schlief –,“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 77). „Sank ich nicht in tiefe Brunnen?“ (Nietzsche, 1990, S. 354). Wer schläft, sündigt nicht, möchte ich gerne als Entschuldigung vorbringen, wie jener depressive Patient, der aus Angst vor dem Schuldgefühl sich in die totale Bewegungslosigkeit zurückgezogen hat. „Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 103). Wer kann schon etwas für seine Träume? Nein, ich will nicht auch noch die Verantwortung für meine Träume übernehmen. Bin ich da nicht in „anwesender Abwesenheit“? (zit. nach Liessmann, 2021, S. 80). Und selbst Zarathustra ruft den Gefährten zu: „Lieber will ich sterben, sterben, als euch sagen, was mein Mitternachts-Herz eben denkt“ (Nietzsche, 1990, S. 354). Man möchte nicht einschlafen, nicht die Kontrolle aufgeben, nicht in jene Schreckensbilder eintauchen, die etwas von mir zeigen, was niemand, auch ich selbst nicht, sehen oder hören soll, sehen oder hören mag. Ich bin froh, dass ich nur meine Traumgedanken erinnere, die in ihren Verkleidungen schon beunruhigend genug sind.3 Allerdings ahne ich, wenn die Tugendwächter geschlafen haben und Träume im fernen Nebel verschwimmen, konnte auf der moralfreien Lichtung gefeiert, geliebt, getötet werden, und wenn ich mich – „unwissend“ – so ausgelebt habe, dann werden die Wächter gestärkt wieder aufstehen (vgl. Liessmann, 2021, S. 97 f.). Und nicht nur diese, auch die Vernunft fordert schon bei geringem Licht „ihre rational kalkulierten, logisch stimmigen“ Ansprüche ein (vgl. Liessmann, 2021, S. 107). Unter ihrer Herrschaft entstehen keineswegs weniger Schreckensbilder, vielmehr werden diese zu Schreckensrealitäten; furchtbar herrschte im Jahrzehnt nach der französischen Revolution von der Vernunft getrieben die Guillotine. Und noch ungeheurer die „rational kalkulierten“ Planungen der Wannseekonferenz. Und derzeit: Der rational kalkulierte, ins Grenzenlose sich ausdehnende, wunschbefriedigende Wachstumsrausch droht die Lebensgrundlagen der Menschheit zu gefährden.4 Wohin soll ich mich flüchten? Es ist alles in meiner Lebenszeit, meiner Geschichte. In der Nacht tobt sich der Trieb in Bildern aus, am Tag leiht er sich die Vernunft als Rechtfertigung, um vom Bild zur Tat zu kommen. Ist es ein Lebenstrieb und/oder ein Todestrieb? „Dionysische Urgewalt“. Will man dem sich nicht ergeben, wird man leiden müssen; das Wort „Unbehagen“ ist fast zu harmlos dafür (Freud, GW XIV, S. 419-506). Ich will versuchen, mich mit einem notwendigen Nein anzufreunden, d.h. mich mit dem Leid des Neins und der Grenze anzufreunden, das mich „kluges Thier“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 113) menschlich macht. Damit ist man nicht aus der Gefahrenzone, aber vielleicht kann man seine Hoffnung neu orientieren. Dionysische Urgewalten kann man nur mit „apollinischen Formen“ oder „apollinischen Verklärungskräften“ ertragen und zu diesen gehören die Kunst, die Religion und das Wissen, zusammengefasst unter dem Wort „Kultur“ (vgl. Safranski, 2020, S. 75).

Im Traum bin ich mir so nah wie sonst eigentlich nie; aber man täusche sich nicht, denn man kommt eben besonders nah dem unbändigen Trieb wie dem gnadenlosen Gesetz. Wieder erwacht bin ich nicht einfach im Licht, denn „Die Welt ist tief“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 125) „und tiefer als der Tag gedacht“ (ebd., S. 149). Tiefer Brunnen, tiefer Traum, tiefe Welt – um welche Tiefe geht es jetzt? Schon die Gegenüberstellung von Schlaf, Traum und Welt hat ihre Klippen. Der Schläfer, der Träumer ist Welt in der Welt. Die Welt ist immer schon da, alles zum Leben, zur Welt Kommende findet schon etwas vor, was zugleich im Finden erfunden wird (vgl. ebd., S. 146). Dem paradiesischen, omnipotenten Fantasieraum entstiegen ist dies wohl eine der grundlegenden Formen des Erkennens von Welt. Der Zusammenhang von Übergangsraum und Übergangsobjekt, wie Donald Winnicott ihn entwickelt hat, beschreibt diesen Erfahrungs-Erkennensprozess in seiner ursprünglichen Form. (Winnicott, 2020) Hier wird ein Verhältnis von Ich und das/der Andere bestimmt, das sich nicht in den Gegensätzen von Schein und Sein, symbolisch und real, schwarz und weiß, rein und verdorben oder von Traum und Wirklichkeit verheddert, sondern darüber hinaus geht. Nietzsche spielte wohl mit dem Gedanken ‚wenn Gott ein Künstler wäre‘ … dann wäre die Welt ein ästhetisches, ein spannungsgeladenes Phänomen, in der aufgehoben ist, was aufgehoben sein kann (vgl. Liessmann, 2021, S. 147-148). Darin liegt die Tiefe der Welt, gewissermaßen „Jenseits von Gut und Böse“.5 Und wenn das Kind, das Winnicott beschreibt, ein solcher Künstler ist … wieviel davon erhalten wir uns, kann in mir lebendig bleiben?

Wie schnell kommt doch der Tag, die Entwicklung, die Vernunft, die Einteilung, die Zerteilung der Gedanken, Gefühle, Fantasien, der Kreativität? „Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Mk 10,15). Meiner Gedankenwelt nach meint das eben nicht, werden wie ein Kind, sondern auf Fähigkeiten zurückgreifen, die für das Kind noch viel selbstverständlicher waren, als für den Erwachsenen, nämlich der Umgang mit der Potenz des Zwischenraumes oder auch des Spielraumes und der Möglichkeit, Abwesendes denken zu können.6 Die Welt ist eben tiefer als der Tag gedacht.

Wenn ich aus der Tiefe zu Dir Gott als dem großen Du rufe, was geht dann vor, was wird beschrieben (Psalm 130, vgl. Liessmann, 2021, S. 161)? Was könnte gemeint sein, wenn der Tag die Gedanken in Sünde und Vergebung, in Tiefe und Höhe noch nicht aufgeteilt hat? Die Patientin, die schweren sexuellen Missbrauch erlebt hat, fragt mich, wollen sie wirklich mit mir in den Keller gehen, also in diese tiefe Welt, deren Strudel eine Endlichkeit zu überschreiten scheint? Schon will sich Ekel als stärkster Schutzschild aufbauen.7 Und dann: Oh Gott, ich rufe, sind wir nicht an jenem Ort, da unten im Keller, miteinander verabredet? Da ist nicht einer unten, der von einem da oben gehoben wird. Wir bewegen uns zusammen, wo auch immer hin, wir ringen, miteinander und gegeneinander, versinken, steigen auf, vielleicht nun hinkend – alles in der Welt.

Dieses „Wir“ hat ein Wissen: „Tief ist ihr Weh –, … Der Schmerz ist ein unhintergehbares Element des Systems Welt“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 175). Damit könnte die Bedeutung dieser Verszeile zusammengefasst sein, doch sie bliebe wie ein Objekt im Außen stehen. Es ist ja meine Reise, begleitet von der mitternächtlichen Glocke; es ist ja mein Weh. Schmerz ist nicht leicht zu ertragen. Aber es gibt Auswege. Man kann sich davon überzeugen, dass man nur deshalb den Schmerz, das Weh hat und fühlt, weil die Welt so schlimm, so ungerecht, so ungeheuer, so gewalttätig ist. Das fordert zum Kampf heraus – eine Form projektiver Identifikation. Man kann auch denken, ich werde Eure Gewalt durch das Ertragen des Schmerzes brechen – eine Form von „moralischem Masochismus“. Die Abwehr hilft nur bedingt. Man kommt wohl nicht vorbei an dem „unhintergehbaren Element“.

Wenn es um der Welt „Weh“ geht, dann ist Dein/dein Weh mindestens ebenso bedeutsam wie mein Weh – und hier macht es keinen großen Unterschied, ob es um das symbolische Du oder das reale du geht. Der nächste Schritt weckt sofort eine wehrhafte Kraft: das kann nicht ich sein, man mag es kaum denken. Ich füge Dir und dir Schmerz und Weh zu, und dabei spielt durchaus die Lust eine Rolle. Bei der begleitenden Lust möchte ich schon etwas mogeln: ‚spielt durchaus eine Rolle‘, nein, auch Schmerz zufügen, kann Lust machen, furchtbar. Die Kunst könnte hier zu Hilfe kommen. Seit vielen Jahrhunderten verehren, verherrlichen, verheiligen, bewundern, lieben wir die mehr oder weniger deutlich ausgeführte Darstellung einer grausamen Todesart: die Kreuzigung. Nietzsche nennt den Zusammenhang von Schmerz und Erinnerung einen „Hauptsatz aus der allerältesten Psychologie auf Erden“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 187). Wessen Schmerzen, wessen Taten, wessen Lust, wessen Neid und natürlich auch wessen Schuldgefühle, wessen Scham verdichten sich in dem Erinnerungssymbol? Es gibt keine Festschreibungen mehr wie ‚ich hier, du dort und Du da oben‘. Wir sind verabredet im tiefen Keller, in der „Gottes-Hölle“ (ebd., S. 196): Opfer, Täter, Retter, Liebender, Krieger, Toter, Auferstandener, Gekränkter, Neider, Kränkender, Kranker, Heilender, ... die Rollen verteilen sich; ich, du und Du haben im Leben immer wieder neue Positionen und bewegen uns im Spannungsfeld von Lust und Schmerz.

„Lust – tiefer noch als Herzeleid:“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 199). Er konnte das Haus nicht mehr verlassen; Bedrohung innen wie außen. Der Ärmel war ihm in der Therapiestunde nach oben gerutscht und es zeigten sich rote, leicht wulstige Linien. Er sah, dass ich sah. „Ist eben alles Scheiße, aufstehen, liegenbleiben, zocken, nicht zocken, essen, kacken, schlafen oder nicht schlafen, eben alles Scheiße. Irgendwie beruhigt es und ist doch gleich auch wieder Scheiße“. Der seelische Schmerz zwingt zur Selbstverletzung, als sei es im oder am Körper leichter zu ertragen. Zugleich wird der körperliche Schmerz sehr schnell zum Herzeleid. Er besetzt mich, ich bin im Schnitt, im Schmerz, er zieht all meine Aufmerksamkeit auf sich, trennt mich von meiner Umwelt. In dem Kreislauf Psyche-Soma-Psyche-Soma ist Henne oder Ei schwer auszumachen. So sind wir manchmal gefangen in unserem psychischen wie realen Haus, von so vielen Affektteufeln gequält und von der Lust ferngehalten.

Nun aber verweist Zarathustra auf noch einen Komparativ mehr. Auf der Suche nach dem Boden in der Tiefe sind wir bei Lust angelangt, in der all das vorher beschriebene enthalten ist. „Lust nämlich, wenn schon das Weh tief ist: Lust ist tiefer noch als Herzeleid“ (Nietzsche, 1990, S. 357). Die Komplexität des „Lustprinzips“ wird deutlich. Lust, dieses ‚kleine Plus‘ bei Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, entwickelt sich zu einer imperativen Kraft, die den Anderen als anderen nicht kennt und doch so dringend braucht (vgl. Müller-Pozzo, 2008, S. 40 ff.). Die Tür zum Herzeleid steht damit sofort offen. „Lust will sich selber ...“ (ebd., S. 357). Das Nein des Anderen ist schwerer Schmerz. Schon öffnet sich eine neue Tür des Opfers und in einer kleinen Wendung kann sich die Lust schließlich am Schmerz vergnügen. Auch das sind Geschichten des eigenen Lebens. Und wiederum: Die Lust kümmert sich nicht um Geschichten und Geschichte. Die Vergangenheit, aus der die Moral kommt, ist ihr egal, die Zukunft, was immer sie bringen mag, ebenso. Die Lust ist jetzt, ist Gegenwart, ist Augenblick und eben darin dem Schmerz durchaus verwandt. Dieser hat allerdings, wie oben beschrieben, stets eine Verbindung zur Vergangenheit und in gewisser Weise zur Zukunft, denn ‚das soll mir nicht noch einmal passieren‘, sagt die Vorsicht und er möge vergehen, sagt der Therapiewunsch. Liessmann fasst hier zusammen: „Auch wenn es uns frivol erscheinen mag: Auf dem Grunde unseres Seins liegt nicht der Schmerz, nicht das Herzeleid, nicht das Leid, sondern die Lust“ und eben auch nicht der Wille, wie Schopenhauer es gut psychologisch beschrieben hat (Liessmann, 2021, S. 220).

Sind wir nun auf dem Grund angekommen? Ganz paradiesisch oder auch höllisch bei der Lust? Die Verneinungen in dem zuletzt zitierten Satz sind verdächtig. Das Lustprinzip hat wahrscheinlich zwei Intentionen: Befriedigung und Schmerzvermeidung. „Weh spricht: Vergeh!“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 221). Oh, wie mir diese Hoffnung vertraut ist. Aber wer spricht hier zu wem? Der Schmerz ist hier nicht das Gegenüber, niemand sagt: du Schmerz, vergeh! Ich muss mich neu orientieren im Verhältnis zu meinem Weh, muss mein Weh selbst sprechen lassen. Als sei im Schmerz die Intention ‚vergeh‘ enthalten (vgl. Liessmann, 2021, S. 232). Der Schmerz, eben anders als die Lust, will sich nicht selbst. Er ist enorm mächtig als „unhintergehbares Element“ in der Welt und als solches ist er selbst der Impuls der Sehnsucht, der Hoffnung, bis hinein in jenen zwielichtigen Satz so vieler, eben auch meiner Eltern, ‚ihr sollt es einmal besser haben als wir‘. So kann das Weh in Hoffnung getarnt als Wiederholung seine transgenerativen Fangarme auswerfen, wenn … ja wenn man dem Weh in manischer Abwehr zu entfliehen versucht. Es ist aber nicht zu hintergehen! „Wir vererben nicht nur Vermögen, wir vererben vor allem Wunden“ (zit. nach Liessmann, 2021, S. 238).

Hier ist das Weh der Bruder der Angst. Auch die Angst hat Signalwirkung und ist unhintergehbar. Meist macht Angst auch Weh, und ebenso macht Weh auch Angst.

„Aber alles, was leidet, will leben …“ (Nietzsche, 1990, S. 357). Ich höre von A.: „Ich halte es nicht mehr aus, alle selbst gesetzten Schnitte, alles Blut, alles Reden, es hilft nicht“. Was, wenn nun der Schmerz zum Leidenden spricht: vergeh! Bei manchen Menschen sagen wir, er ist nun erlöst von seinen Schmerzen – bei dem Jugendlichen A. würde uns das wohl nicht einfallen. Er selbst allerdings fühlt es im Moment so, hört den „erlösenden“ Ruf: Vergeh! A. will eigentlich nicht sterben, er will etwas anderes leben und fühlen: „und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Offb 21,4). Er möchte sagen können, ein Leben in Angst und Weh ist vergangen; woher kommt mir die Kraft, ein anderes Leben zu leben, indem Angst und Weh mich nicht überfordern und ich überhaupt oder wieder einen Zugang zur Lust finden kann. Nein, Lust sagte er nicht, er will Spaß haben. Was hat das miteinander zu tun? A. ahnt, dass ein Leben ohne Angst und Weh illusorisch ist, aber es darf seinen psychischen Haushalt nicht überfordern. Er hat auch nicht die Idee, nur auf einer Spaßwelle zu surfen. Vielleicht lag in dem „ich will … haben“ der zentrale Impuls.

„(Denn) Doch alle Lust will Ewigkeit –,“ (Nietzsche, 1990, S. 358-243), beide Formen finden sich im Text. Ich hänge an dem „will“ fest, denn es kam in Verbindung mit der Lust schon einmal vor: „Lust will sich selber ...“ (ebd., S. 357). Wenn ich an Wille und wollen denke, denke ich an ein Ich. Ich bin es, der will – du bist es, der will, mal zusammen, mal gegeneinander. Unsere Autonomieentwicklung ist von diesen Impulsen und dem Aushandeln unterschiedlicher Willensreiche bestimmt, die man gerne ausdehnen möchte. Und wir erlernen die Techniken, wie dies zu erreichen ist und was dabei moralisch vertretbar ist und was nicht.

„Dein Reich komme, Dein Wille geschehe …“, hier beugt sich jemand in Anerkennung seiner Abhängigkeit, auch in Bezug auf Schuld und Entlastung, dem Willen des Du. Nun aber die Zeile des zehnten Glockenschlages: „Alle Lust will …“. Ich ahnte schon, dass ich Lust nicht wollen kann und manchmal dämmerte es mir, dass die oder eben genauer alle Lust mich wollen kann, mich in jenes Reich ziehen kann, in dem das Lustprinzip in Kraft und Herrlichkeit regiert. Ich kann die Lust nicht bitten, ich bin ihr unterworfen, mein Wille ist ihr unterworfen, die Lust ist der eigentliche Antrieb zu wollen, imperativ und fordernd zu wollen. Der Stolz in mir will das nicht wahrhaben, will auf diesen Teil des Brunnengrundes nicht schauen und nicht wortwörtlich Subjekt sein.

„Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig“, heißt es in Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche, 1990, S. 540) und ist „polymorph pervers“ heißt es bei Freud. Er drängt, treibt, ist gleichsam lustsüchtig, da jede einmal erlebte Befriedigung oder eben Lust eine Spur hinterlässt, ein Engramm, das auf immer erneute Wiederholung, auf Ewigkeit drängt: Eine Ewigkeit, deren Duft hier als Lebenselixier zu begreifen ist (vgl. Liessmann, S. 257). Lust ist die psychosexuelle Urkraft, die an allen Lebensvollzügen ihren Anteil hat, selbst wenn in den Vollzügen Schmerz entsteht.

In diesen Tiefen, in dieser Nacht wird man allerdings gewahr, dass es hier nicht um leichte, freundliche Schönheit, um „Lüstchen“ geht.8 Wenn mich schon meine latenten Traumgedanken erschrecken und beschämen, was wenn ich erst hinter die ‚vorletzte‘ Tür einen Blick werfe? Was, wenn mir wirklich klar wird, dass Maß und Inhalt meiner Tugenden nur Aufschluss über Formen und Intensitäten meiner Leidenschaften geben. „Und ob du aus dem Geschlechte der Jähzornigen wärest oder aus dem der Wollüstigen oder der Glaubens-Wütigen oder der Rachsüchtigen: Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln“ (Nietzsche, 1990, S. 37). Die Tugenden aber sind vergänglich und im sozialen Feld variabel, beeinflussbar, manipulierbar, alkohollöslich oder von Massenphänomenen überspülbar. Die ewige Lust bleibt am Grunde des Brunnens liegen.

Für Nietzsche wurzeln alle Lebensformen in Affekten, Trieben, Leidenschaften. Aber ist das der alleinige Grund? Muss man ein „Weh“ denken jenseits der Leidenschaften? Er wachte in der Intensivstation auf, eine Frauenstimme sagt, sie müssen ganz ruhig liegen, sich nicht auf die Seite drehen. Irgendwie bekommt er mit, dass da noch einige andere Betten sind, Piepgeräusche, Lichter blinken; er will rufen, meint zu rufen, da ist niemand oder doch, ja, ein säuerlicher Ton, Schmerzmittel kommt. Dann spürt er eine immer stärker werdende Panik, kein Halt mehr, da ist irgendein Bilderrahmen, der Rahmen, die rechte Ecke, er darf auf keinen Fall den Rahmen, diese Ecke verlieren, verzweifelt, flehend, nein, nicht verschwinden, Ecke bleib. Nacht. Kurze wache Momente versuchen Gedanken wie, wo sind meine Lieder, meine Psalmen, meine Texte? Er kam doch aus dem „Geschlecht der Glaubenswütigen“? Von guten Mächten … ihm fällt nur das Wort Kitsch ein, bevor der Rahmen wieder zu wackeln anfängt. Man berichtete ihm später, wie unheimlich und erschreckend er war. Jede Erinnerung dieser Nacht oder Nächte, er weiß nicht, wie lange der Kampf um den Rahmen ging, weckt die Angst neu, öffnet die Schleuse des Tränensees. Es schien, als habe er – war es wirklich ein „Er“ als Subjekt – einen Blick geworfen in jene rahmenlose Tiefe, in ein Jenseits der Worte und Symbole, erfasst von einem Hauch des Unfassbaren, das nicht Tod ist, aber in dem uns bekannten Sinne auch nicht Leben? Eine letzte diesseitige Tür, ein Raum, unbegrenzt, den wir vielleicht nur Grauen nennen können, weil uns Panik erfasst vor einer rahmenlosen Weite, die der Geist nicht fassen kann, in welcher der Geist sich verliert oder auflöst. Panik ist die Rettung, ist das Weh, das spricht: Vergeh.

Die Ewigkeit wollende Lust, selbst mit ihren destruktiven Akzenten, wie sie auch aus Panik und Angst entstehen können, will das Leben, nicht das ewige Leben, sondern das Leben oder auch das Prinzip Leben in Ewigkeit.

Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (Nietzsche, 1990, S. 359). In der Liedzeile heißt es im Anschluss an „denn alle Lust will Ewigkeit –, – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Allerdings verweisen die Bindestriche am Ende der letzten und am Anfang dieser Liedzeile auf Ausgelassenes und doch Gedachtes, eben die Dinge oder psychologisch, die Objekte. Natürlich wusste Nietzsche schon, wie Freud später betonen wird, dass die Lust das Objekt braucht, auch wenn man selbst das Objekt der eigenen Lust sein kann. Der Lust ist das object seeking inhärent. Wiederum muss ich mich der Versuchung erwehren, der Lust grundsätzlich einen eher qualitativ positiven Beigeschmack beizumengen. Die Lust kommt aus dem Reich jenseits von Gut und Böse. Aber, sie braucht das Objekt. Schon aus rein lustzentrischen Gründen muss ihr daran gelegen sein, dass es Objekte in Ewigkeit gibt. Will die Lust sich selbst, will sie immer auch das Objekt, ja es ist ihr sogar daran gelegen, das Objekt zu erhalten.

Das klingt nach einer letzten Gemeinheit des entidealisierenden découvreur. Nicht die Liebe sucht das Objekt und hat dann Lust an und mit ihm, sondern die Lust sucht das Objekt, und dann kann als zusätzliches Plus oder auch Geschenk die Liebe entstehen. Die Entwicklungspsychologie stützt diese zweite Sicht durchaus. Der Hunger sucht die Brust und erfährt dabei Lust; dieses Engramm nun will Lust und Ewigkeit, dazu braucht es wiederum die Brust oder den Daumen, den Kissenzipfel, den Schnuller, die Süßigkeiten, den Wein, die Schweinshaxe, das interessante Buch, den Kuss. Da sind Objekte, die der Lust dienen und sich der Lust in der Entwicklung des Babys immer wieder zur Verfügung stellen. Sukzessiv ändert sich bei dem Baby die Objektvorstellung. Durch Ritualisierung einerseits und den Wechsel von Befriedigung und Versagung des immer gleichen Objektes andererseits wird aus dem subjektiven Objekt ein objektives Objekt, ein Anderer. Es ist die Identifikation mit dieser:m liebenden Anderen, die sich als Liebe dazugesellt. So wird das Objekt dann leicht idealisiert, verschönt und begehrlich fantasiert, gemacht, gestaltet (vgl. Müller-Pazzi, 2008, S. 37). Selbst die Lust, erkennen zu wollen, wird das Objekt erheben, will Erkenntnis nicht zur Qual werden. Mit diesen Gedanken habe ich Nietzsche wohl verlassen oder besser, gehe auf einer Parallelstraße. Die sich selbst wollende Lust ist abhängig vom Objekt; damit wird ihre Selbstherrlichkeit gekränkt. Und hier, wer kennt es nicht, lauern, man möchte sagen ‚tiefe’ Gefahren. Das sich autonom fühlen wollende Ich will die Abhängigkeit nicht fühlen und wird den:die Andere:n wieder zum subjektiven Objekt herunterreißen; destruktive Fantasien setzen sich dann allzu leicht in destruktive Taten um. Aber, wieder zurück auf Nietzsches Weg, dies ist nun kein vermeidbarer Unfall, sondern Teil des wahrzunehmenden Lebens an sich. Auch so oder das ist der Mensch, bin ich.

 

Nachklang

Ach, hätten wir doch reden können damals in Sils-Maria. Wahrscheinlich hätte ich Deine Rigorosität allen Anderen, aber noch mehr dir selbst gegenüber, kaum ertragen. Deine Kurzsichtigkeit schien mir wie ein körperlicher Ausdruck deiner Wendung zu Dir selbst und nach Innen. Es gab sicher einige, die für Dich ein „Wilhelm Fließ“9 sein wollten. Aber sowohl bei Deiner Gipfelstürmerei als auch bei deinen Tiefgängen wäre sicher auch ich viel zu langsam gewesen, du wolltest durch nichts und niemanden mehr aufgehalten werden. Du hast Dir deine Gesprächspartner selbst erschaffen, wie z.B. im Zarathustra, sicher eine Möglichkeit auf Zeit, aber auf Dauer?

Zugleich geht mir durch den Sinn, dass die meisten Künstler über ihre Werke nicht sprechen möchten, sie möchten vielmehr die Sehenden und Hörenden zum Sprechen bewegen; nicht zum Beurteilen, das verschließt nur. Gerade deine späten Texte gleichen Kunstwerken, in denen Lyrik, Prosa, Religion und Musik mit unbestechlicher Analyse, Klarheit der Gedanken und Visionen spielen und sich umspielen, eben ganz eigene, unvergleichliche Kompositionen. Sie sind Ausdruck des lustvollen Zusammenspiels von Dionysos und Apoll.

Wenn man dich als einen „fanatischen Fürsprecher des Lebens“ bezeichnet, lockt es einen, mit dir zu gehen und das gute oder schöne Leben zu suchen.10 Aber in dem „trunkenen Lied“ wurde schon deutlich, dass das nur die eine Seite des Lebens ist, und du würdest wahrscheinlich sagen, noch nicht einmal die wichtigste. Du machst darauf aufmerksam, zu Leid, Krankheit, Schmerz und Sterben ein ebenso überzeugtes, vielleicht sogar jubelndes „Ja“ zu sagen wie zu den Freuden. Ich ringe damit, aber ich ahne, dass ich nicht zu denen gehöre, die das können, obwohl ich vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Erfahrung weiß, dass wir alle an den Grenzen oder am Nein wachsen und uns entwickeln. Eben auch darüber hätte ich so gern mit dir gesprochen.

Es könnte sein, dass Lou dir am nächsten war, am ehesten dich und deine Art zu leben, zu lieben und zu denken nachvollziehen konnte; sie wusste um deine „weibliche Milde“ und deinen „wohlwollenden Gleichmuth“, was ich mir schon gar nicht mehr vorstellen kann. Ihr sei deshalb das letzte Wort gelassen: „Wenn er sich einmal gab, wie er war, im Bann eines ihn erregenden Gesprächs zu Zweien, dann konnte in seine Augen ein ergreifendes Leuchten kommen und schwinden; – wenn er aber in finsterer Stimmung war, dann sprach die Einsamkeit düster, beinahe drohend aus ihnen, wie aus unheimlichen Tiefen – aus jenen Tiefen, in denen er immer allein blieb, die er mit niemandem theilen konnte, vor denen ihn selbst bisweilen Grauen erfasste, – und in die sein Geist zuletzt versank.“ (Andreas-Salomé, 2013, S. 12-13).

 

Oh Mensch! Gib acht!

Was spricht die tiefe Mitternacht?

„Ich schlief, ich schlief –,

Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –

Die Welt ist tief,

Und tiefer als der Tag gedacht.

Tief ist ihr Weh –,

Lust – tiefer noch als Herzeleid:

Weh spricht: Vergeh!

Doch alle Lust will Ewigkeit –,

– will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

(Nietzsche, 1990, S. 359)


1 Der Gedanke des kreativen Zwischenraums ist in Donald W. Winnicotts Vom Spiel zur Kreativität entfaltet worden. Die Grundlagen entwickelt Winnicott in „Übergangsobjekte und Übergangsphänomene“ (S. 10-36). Auf die Person Nietzsche und sein Werk bezogen soll besonders auf die Arbeit „Kreativität und ihre Wurzeln“ (S. 78-85) hingewiesen werden.

2 Über Ähnlichkeiten und Berührungspunkte zwischen Nietzsche und Freud sagt Freud selbst, „Nietzsche, den anderen Philosophen, dessen Ahnung und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum gemieden; an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit“, in „Selbstdarstellung“ (GW XIV, S. 86).

3 „In den bestgedeuteten Träumen muss man oft eine Stelle im Dunkeln lassen, weil man bei der Deutung merkt, dass dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will. ... Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt.“ (Freud, GWII/III, S. 530). Dank dem Hinweis von Martin Weimer, dem solche verdichteten Stellen geläufig sind.

4 Und während ich an diesem Text arbeite, beginnt der russische Präsident Putin einen Krieg in der Ukraine.

5 Hier ist mir Nietzsche ein guter Lehrer, da er gegen die uns in den Sozialwissenschaften verführenden und einengenden Klauen eines tertium non datur immer wieder erneut anstürmt.

6 Unmittelbar vor dem Abschnitt „Das trunkene Lied“ beschreibt Nietzsche das „Eselsfest“, das sehr an die Geschichte vom goldenen Kalb (Ex 32) erinnert. Dieser Rückfall in die symbolische Gleichsetzung wird von Nietzsche mit heftigem Spott beschrieben. Hier spricht er von „den frommen Kindlein“, die nach dem Himmelreich schielen, um zugleich zu zeigen, dass er die „Rückfallsucht“ durchaus verstehen kann (vgl. Nietzsche, 1990, S. 345 ff.). Gerade zu der besonderen Erkenntnisfähigkeit des Kindes, „die wahrhafte Gelöstheit des schöpferischen Wollens“ (vgl. Safranski, 2020, S. 287).

7 „Dionysische Weisheit ist die Kraft, die dionysische Wirklichkeit auszuhalten. Aushalten muss man dabei beides: eine nie gekannte Lust und einen Ekel.“ (Safranski, 2020, S. 73).

8 Spöttisch heißt es in Zarathustras Vorrede: „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit“ (Nietzsche, 1990, S. 15).

9 Sigmund Freuds Freund und Gegenüber in seiner Selbsterfahrung.

10 Vgl. hier und zum Weiteren Stefan Zweigs Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin-Kleist-Nietzsche (2022, S. 222 ff.). Die Widmung dieses Bandes: „Professor Dr. Sigmund Freud, dem eindringenden Geiste, dem anregenden Gestalter diesen Dreiklang bildnerischen Bemühens“. Erstausgabe 1925.

 

Literaturverzeichnis

Andreas-Salomé, Lou (2013 [1894]): Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Hamburg: Severus.

Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In: GW II/III.

Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: GW XIV.

Kämpfer, Horst (2015): „Kreuzigung und Auferstehung – eine pastoralpsychologische Annäherung“. In: WzM 67.

Kämpfer, Horst (2021): „Wir brauchen einander – Gedanken zu: Georges-Arthur Goldschmidt: Vom Nachexil“. In: psychosozial 163,1 (Jg. 44).

Liessmann, Konrad Paul (2021): Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen. Wien: Zsolnay.

Mann, Thomas (2003): Josef und seine Brüder. Die Geschichten Jaakobs. Frankfurt/M.: Fischer.

Müller-Pozzi, Heinz (2008): Eine Triebtheorie für unsere Zeit. Sexualität und Konflikt in der Psychoanalyse. Bern: Huber.

Nietzsche, Friedrich (1990): Das Hauptwerk, Band 3. (nach dem Text der Kröner-Taschenausgabe) München: Nymphenburger.

Safranski, Rüdiger (2002): Nietzsche. Biographie seines Denkens. Frankfurt/M.: Fischer.

Scharfenberg, Joachim (1972): Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit. Gesammelte Beiträge zur Korrelation von Psychoanalyse und Theologie. Hamburg: Furche.

Winnicott, Donald W. (1979): Vom Spiel zur Kreativität. 2. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.

Zweig, Stefan (2022 [1925]): Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin – Kleist – Nietzsche. Frankfurt/M.: Fischer.

 

 

Autor:in: Dr. Horst Kämpfer ist als psychoanalytischer Therapeut für Kinder und Jugendliche in freier Praxis und als Dozent am John-Rittmeister-Institut in Kiel tätig.