Evelina Jecker Lambreva

Y – Z Atop Denk 2022, 2(9), 3.

Abstract: In ihrer Briefnovelle ermöglicht Evelina Jecker Lambreva den Leser:innen im literarischen Vollzug sowie aus einer persönlichen Perspektive einen Zugang zu einigen der zentralen Themen der Psychoanalyse: Tod, Krankheit in der Familie, Traumdeutung und mehr. Im Folgenden handelt es sich um fünf der insgesamt vierundvierzig Briefe, die monatlich im Y erscheinen.

Keywords: Briefnovelle, Tod, Trauer, Familie, Traumdeutung

Veröffentlicht am: 30.09.2022

Artikel als Download: pdfBriefnovelle (36-40)

 

36.

Liebe Oma,

das ist doch unglaublich! Das ist doch gar nicht zu fassen! Ab nächster Woche wird unser Leben ganz anders! Julia wird mich zwar dafür hassen, aber mir ist das völlig egal.

Oma, diese wunderbare Familie aus Südtirol war da und hat unsere Familie zur glücklichsten Familie der Welt gemacht! Weisst du, Oma, was jetzt kommt?

Das ist die grosse Nachricht!

Pass jetzt auf, was sich alles an diesem Wochenende zugetragen hat.

Sie kamen bereits am Donnerstag zu uns, Romina und ihre Eltern. Ich war ein bisschen verwundert, da ich mir Oma Greta und Opa Pepe, so heissen Rominas Eltern, ganz anders vorgestellt habe. Oma Greta sieht aus wie eine niedliche Riesenmaus. Sie hat eine piepsige, kindliche Stimme, wie die von der kleinen Tamara, der Dreijährigen von der Nachbarin Elena. Opa Pepe ist gross und mager, hat ein langes Gesicht, spricht wenig und lächelt ständig nett. Sie kamen wieder mit einem Mietauto und mit der Dolmetscherin zusammen. Die Grosseltern haben uns so begrüsst, als wären wir schon lange ihre Freunde, obwohl sie uns noch nie gesehen haben. Massimo ist dieses Mal nicht mitgekommen. Er ist zu Hause geblieben, denn das Hotel habe für das Wochenende unerwartet viele Gäste bekommen. Er musste schauen, dass alles funktioniert. Wir haben sie bei Tante Elvira untergebracht, so wie das vorher abgemacht war. Danach gingen wir alle zu uns nach Hause.

Beim Abendessen, nach dem Salat, stand auf einmal Romina auf und klopfte mit der Gabel auf ihr Glas, damit wir ihr alle zuhörten. «Ihr Lieben,», erhob sie das Glas «ihr habt sicher gemerkt, dass wir euch dieses Mal keine Geschenke mitgebracht haben. Das ist nicht, weil wir nicht daran gedacht haben», sagte sie und schwieg kurz. Die Dolmetscherin übersetzte. Dann setzte Romina fort: «Der Grund dafür ist, dass wir unser Geschenk auf das Bankkonto von Mira überwiesen haben. Dann wandte sie sich zu Mama und sagte «Zum Wohl, Mira, auf deinen Lebenstraum!». Mama erhob sich, um mit ihrem Sirupglass anzustossen. Sie war aber so verblüfft, dass sie sich wieder rasch hinsetzen musste. Sie hockte da mit offenem Mund und konnte sich kaum bewegen. Zuerst begriff ich nicht, was da läuft und was Romina genau meinte. Ich dachte, ich hätte nicht richtig zugehört und falsch «Lebenstraum» gehört. Bis sich Tante Elvira, die neben mir sass, bekreuzigte und flüsterte «Mein Gott, anscheinend passieren noch Wunder auf dieser Welt!» Anton und Leo starrten auf die Grosseltern. Oma Greta und Opa Pepe lächelten geniert vor sich hin und blickten in ihren Tellern. Dann erklärte Romina, dass die Geldüberweisung ein Familiengeschenk sei, von ihnen allen an uns. Ich konnte es noch immer nicht fassen. «Was heisst das jetzt? Schenken sie wirklich Mama Geld für ihren Lebenstraum, Tante?», flüsterte ich. «Ja!», nickte Tante Elvira. Ich fragte nicht mehr weiter, aber ich merkte, wie ich aus Freude fast platzte. Endlich nahm sich Mama zusammen, stand auf und bedankte sich bei Romina und ihren Eltern herzlich. «Ihr seid alle ein Geschenk des Himmels für uns», sagte sie am Schluss und bekreuzigte sich auch. Die Dolmetscherin übersetzte alles mit Tränen in den Augen. Ich konnte nicht mehr anders, sprang auf, umarmte fest und küsste zuerst Romina, dann Oma Greta und Opa Pepe. Sie waren aber alle so verlegen von meinen Küssen, dass ich erschrak. Ob es richtig war, so auf sie mit Küssen loszugehen? Ich blickte zu Mama. Sie aber war wie abwesend und lächelte nur in die Gegend. Darauf eilten wir beide mit Tante Elvira in die Küche, um den Hackfleischeintopf zu servieren. Irgendwann rief auch Massimo an. Wir konnten ihn auf Rominas Tablet sehen. Wir haben uns alle auch bei ihm bedankt.

Als sie dann nach Hause zu Tante Elvira schlafen gegangen waren, checkte Mama ihr Bankkonto. Und tatsächlich. Das ganze Geld, dass sie braucht für den zweiten Stock, ist da! Bereits nächste Woche will Mama mit dem Bau des zweiten Stockwerks an unserem Haus beginnen. Die Baufirma eines Mitschülers von ihr, den sie gut kennt, kommt. Also der Bau wird sofort starten, denn Mamas Mitschüler wisse schon lange, was sie genau wolle. Er habe ihr auch gesagt, was das Ganze kosten werde. Deshalb wusste Romina, wieviel Geld Mama braucht, um sich ihren Lebenstraum zu erfüllen. Weil Mama es ihr gesagt hat beim ersten Besuch bei uns, als sich die beiden über Mamas Lebenstraum unterhielten. Davon habe ich dir schon geschrieben.

Oma, Mama ist mega glücklich! Es ist soooo schön, sie so glücklich zu sehen!

Gute Nacht, Oma!

Deine Nadja

 

37.

Liebe Oma,

einen ganzen Monat lang habe ich dir nicht mehr geschrieben. Es tut mir leid! Aber ich konnte nicht. Der Bau des zweiten Stocks an unserem Haus ist voll im Gang. Das Dach ist schon weg und die dicke Betonplatte, die der neue Boden sein wird, ist bereits gegossen. Die Betonplatte ist auch schon trocken. Zum Glück ist das Wetter noch immer sehr warm. Anton und ich haben sehr viel zu tun. Wir müssen ständig putzen, da sich schnell viel Staub und Dreck ansammelt. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Arbeiter jeden Tag etwas zum Mittagessen bekommen. Die Schule hat auch begonnen. Bald haben wir die ersten Prüfungen. Mama kann kaum etwas machen, da sie in letzter Zeit oft müde ist. Sie war wieder beim Arzt für ihre monatliche Kontrolle. Mit dem Baby ist alles gut. Mama ist jetzt Mitte des vierten Monats schwanger. Sie spürt das Baby noch nicht. Sie hat uns aber versprochen, dass sie es uns sofort sagt, wenn sie bemerkt, dass sich das Baby bewegt. Tante Elvira und Leo kommen jeden Tag vorbei. Leo hilft nach der Schule den Arbeitern. Die Tante kauft für uns ein und kocht uns verschiedene Mahlzeiten für einige Tage im Voraus. Der Baumeister, Mamas Mitschüler, sagt, dass unser zweiter Stock in einigen Wochen ganz fertig sein wird, vielleicht auch früher. Deshalb arbeiten seine Leute von morgens früh bis abends spät, und sogar an den Wochenenden.

Oma, ich weiss jetzt, wie der zweite Stock aussehen wird. Zu ihm wird es nur eine Treppe von aussen geben. Sie ist aus feinem Metall und steht schon. Der neue Stock ist also von unserem ersten Stock total getrennt. Durch die Aussentreppe wird man in eine Wohnküche kommen. Von dieser aus wird es dann zu den drei Zimmern gehen. Jedes Zimmer wird einen winzigen Balkon haben. Alle mit Blick aufs Meer! Neben die Wohnküche kommt ein Badezimmer mit Dusche und WC. In den nächsten Tagen erwarten wir die Fertigwände. Sie sind ganz speziell und heissen «Elementwände». Der zweite Stock wird eigentlich eine selbständige kleine Wohnung sein. Wir werden kein Dach mehr haben wie bis jetzt, und wie es die anderen Häuser haben. Das sei nicht mehr modern, sagt Mama. Statt des bisherigen Dachs kommt einfach eine dicke flache Platte, Mama kann es kaum erwarten, dass es wieder Sommer wird. Dann möchte sie die Zimmer sofort an Touristen vermieten.

Als vor ein paar Tagen die Treppe und die Betonplatte fertig waren, durften Anton und ich nach oben zu den Arbeitern gehen. Wir konnten uns anschauen, wie es aussieht. Das war irre, kann ich dir sagen! Von der Betonplatte aus sieht man, wie sich das Meer und der Himmel weit, weit vorne über den Bäumen und hoch über den Dächern der Häuser berühren. Wir erblickten in der Ferne auch einige Schiffe. Sie waren klein wie Kinderspielzeuge und bewegten sich ganz sachte auf dem glatten Meer. Und links ist das ganze Kap der Drei Jungfrauen zu sehen. Es ragt ins Meer hinaus wie eine durstige Mausschnauze. Man fühlt sich so ganz gross, wenn man auf dem zweiten Stock ist und die Welt von oben betrachtet.

Nun will ich schlafen.

Gute Nacht, Oma, träume auch so süss, wie ich träumen werde!

Deine Nadja

 

38.

Liebe Oma,

etwas Furchtbares ist passiert! Etwas ganz schlimmes, Oma!!! Ausgerechnet jetzt, wo der zweite Stock fertig und so wunderschön geworden ist. Ausgerechnet jetzt, wo wir alle so glücklich sind! Ich kann es nicht glauben, Oma! Wie konnte bloss so etwas geschehen?

Wir waren gerade in der Stadt, um Möbel auszusuchen. Da kam eine lange Mail von Romina. Mama dachte sich nichts dabei. Sie leitete die Mail der Dolmetscherin weiter. Wir haben die Möbel bestellt, wir sind danach Pizza essen gegangen. Und Eis! Es gab für alle jede Menge Eis! Mama hat ganze zwei Melbas gegessen! Wir hatten es so schön! Dann kamen wir nach Hause. Mama öffnete ihr Handy und begann ihre Mails zu checken. Sie sagte, die Übersetzung sei schon da. Sie las die Mail. Auf einmal sackte sie auf das Sofa nieder. Lag da mit geschlossenen Augen und regte sich kaum. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Ich erschrak und begann sie zu rütteln. «Mama! Mama, was ist denn los?» Irgendwann hörte sie mich und sagte leise «Ja, ich bin da!». «Was ist passiert? Was ist passiert?», rief ich. Nach einer Weile sagte sie: «Romina hat geschrieben … Massimo und sie trennen sich … Sie wollen das Kind nicht mehr haben …» Ich war absolut entsetzt. Ich hockte mich neben Mama und umarmte sie. «Romina und Massimo sind auseinander? Ist das sicher?» Ich traute meinen Ohren nicht. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf hineingehen. «Die Dolmetscherin hat sicher etwas falsch übersetzt, Mama! Ruf sie doch an!», schubste ich sie. Mama schüttelte den Kopf. «Romina schreibt, dass Massimo eine Freundin hat. Diese sei jetzt schwanger von ihm und deshalb verlasse er Romina. Er sei bereits ausgezogen …». «Und jetzt?» fragte ich. Mama schwieg. Nach einer Weile sagte sie leise: «Ich muss das Kind abtreiben …». Und da ich nicht wusste, was genau abtreiben bedeutet, erklärte sie es mir. Die Frau bekomme eine Operation, in der das Kind ausgekratzt und weggespült werde. Es schauderte mich, als ich das hörte. Es tönte so schrecklich. Und so unheimlich. Dass Romina und Massimo so etwas verlangten? «Aber wenn du das Kind nicht mehr hast, müssen wir ihnen das ganze Geld für den zweiten Stock zurückgeben? Wollen sie jetzt auch ihr Geld zurück», fragte ich. «Nein, das nicht», sagte Mama». «Das Geld war ein Geschenk von Rominas Familie, das schreibt sie auch. Aber sie möchte, dass ich sofort abtreibe. Wenn ich abtreibe, würden sie uns das monatliche Geld bis zum Geburtstermin des Kindes weiterzahlen. Falls ich das Kind behalte, hören sie ab sofort mit den Zahlungen auf … Den Kontakt zu uns wollen sie so oder so abbrechen … Auch wenn es ihr sehr leid tue. Nicht wegen uns, sondern wegen Massimo wollen sie den Kontakt zu uns nicht mehr. Weil ihnen die Erinnerungen so weh tun …» Ich machte Mama einen Tee. Als sie den Tee getrunken hatte, sagte sie, «Das Kind bewegt sich von Tag zu Tag mehr in meinem Bauch. Ich kann es doch nicht einfach abtreiben! Abtreiben im fünften Monat, welcher Arzt macht denn sowas?», schluchzte Mama und ich wusste nicht, wie ich sie trösten konnte.

Gegen Abend kam eine Frau von der Agentur. Sie sagte, das Krankenhaus sei bereit für die Abtreibung. Mama könne bereits am nächsten Morgen eintreten. Mama aber sagte, sie gehe nicht hin, sie möchte es sich noch überlegen, ob sie abtreiben werde. Die Frau von der Agentur machte ein mürrisches Gesicht. «Du weisst aber, dass du dich an den Vertrag halten musst», sagte sie und ging.

Keine Ahnung, wie es jetzt weiter geht, Oma. Ich kann nicht essen und auch nicht schlafen, ich habe so Angst, was nun kommt. Die ganze Zeit sehe ich nur noch Romina und Massimo vor mir. Wie kann nur so etwas passieren? Sie waren doch so gut miteinander! Sie haben sich ständig «Darling» gesagt. Und Massimo war so aufmerksam zu ihr. Dass die jetzt nicht mehr zusammen sind? Und dass sie das Kind nicht mehr wollen? Unglaublich! Es ist so traurig, ich könnte nur noch heulen. Und Mama? Was geschieht jetzt mit ihr, mit dem Baby, mit uns? Wenn Mama abtreibt, stirbt das Baby. Wenn sie nicht abtreibt, haben wir kein Geld. Das ist dann auch Scheisse. Aber darf das Baby nicht trotzdem geboren werden? Wir könnten es doch behalten. Dann hätten Anton und ich ein Geschwister. Und wir würden uns um das neue Geschwisterchen kümmern. Oma, ich will nicht, dass das Baby stirbt! Wir könnten doch jetzt schon den zweiten Stock vermieten. Nicht an Touristen, sondern an irgendwelche anderen Leute. Da käme Geld herein. Morgen gebe ich Mama diesen Tipp. Oma, hast du mir einen Rat, wie ich sonst noch Mama helfen kann? Ich würde wirklich alles für sie tun. Jetzt werde ich dir jede Nacht schreiben, denn es sind so viele Dinge geschehen, die ich nicht verstehe. In den nächsten Tagen bin ich allein im Zimmer. Anton ist bei Leo und Tante Elvira. Er bleibt dort bis am Wochenende.

Ciao, Oma, und bis morgen!

Deine Nadja

 

39.

Liebe Oma,

heute habe ich mich wieder heimlich mit Julia getroffen. Ich wollte unbedingt wissen, was sie zu der Babysache sagt.

Wir trafen uns im Eichenwald. Da es nass und kalt war, würde uns ja keiner sehen. Mama schlief am Nachmittag und ich schlich mich davon.

Zuerst schwärmte Julia von ihrem Freund. Er bereite sich für seine Fahrprüfung im nächsten Jahr vor. Er werde auch eine Motorradfahrprüfung machen. Auf dem Abschlussball bekomme er von seinem Vater ein schwarzes Motorrad als Geschenk. Julia freut sich jetzt schon darauf. Sie stellt es sich megacool vor, wie sie beide in schwarzen Lederklamotten auf dem schwarzen Motorrad herumsausen. So wollen sie Feinde erschrecken, sagte sie. Zum Beispiel durch den Ausländermarkt beim alten Bahnhof der Stadt rasen, der jeden Samstag stattfindet. Dann erzählte sie total begeistert von der nächsten Aktion ihrer Clique. Sie bereiteten einen grossen patriotischen Marsch vor. Alle mit brennenden Fackeln, Heimatfahnen und so. Ich könne ja auch mit ihr mitgehen, wenn ich das wolle, der Fackelumzug sei für alle offen und jeder könne sich anschliessen. Ich sagte nein, ich komme nicht, ich habe jetzt einen grossen Kummer, von dem ich dir erzählen will. «Kummer? Du?», starrte mich Julia an. «Ihr seid ja so reich, was hast denn du für eine Ahnung von Kummer?», lachte sie.

Dann erzählte ich ihr von Romina und Massimo, und was sich alles inzwischen zugetragen hatte. Als ich fertig war, meinte Julia: «Das grösste Problem ist, dass das Kind von einem Ausländer stammt. Unser Land braucht viele Kinder, aber aus dem eigenen Volk. Mit dem Blut und mit den Genen unserer grossartigen Vorfahren, keine Mischlinge.» Sie sagte auch, dass Mama aus dieser schrecklichen Geschichte ein für allemal nun ihre Lehre ziehen und nie mehr Kinder an reiche Ausländer verkaufen sollte.

«Mir tut das Baby in Mamas Bauch leid», sagte ich. «Warum?», fragte mich Julia verwundert. Sie verstand das nicht. «Weil es gehen muss, bevor es gekommen ist. Falls sich Mama für eine Abtreibung entscheidet», antwortete ich. «Ach, was!», schubste mich Julia, «Es wird doch gar nichts merken. Es weiss es ja noch gar nicht, dass es lebt. Es ist jetzt nur eine Frucht.»

«Es ist aber keine Frucht, wenn man inzwischen weiss, dass es ein Mädchen ist!», widersprach ich ihr. «Dazu ist es meine Schwester. Die Eizelle kommt von Mama!»

«Lass das, Nadja!», schüttelte Julia den Kopf. «Wenn du mich fragst, soll deine Mutter abtreiben und für immer mit diesem Business aufhören! Und wenn sie es nicht lassen kann, andauernd schwanger zu sein, dann soll sie weiter Kinder gebären, aber nur für unsere Landsleute».

Oma, ich begreife Julia nicht. Sie sagt, Abtreibung ist nur dann schlecht, wenn man «volkseigene Kinder» abtreibt. Ausländische und solche mit ausländischen Wurzeln brauchen wir hier nicht, und es ist gut, wenn die gar nicht zur Welt kommen. Denn je weniger es von ihnen gibt, desto besser ist das für unser Volk. Ich denke, Abtreibung ist immer schlecht, es ist immer schlecht, wenn jemand sterben muss!

Nach dem Treffen mit Julia geht es mir nun noch schlechter. Aber ich kann es niemandem sagen. Ich will, dass Mama das Baby behält, ich will, dass meine Schwester kommen darf. Ich habe mir sogar schon einen Namen für sie ausgedacht. Alma soll sie heissen. Das habe ich Mama gesagt. Sie hat mir aber nicht geantwortet. Sie hat nur mein Haar gestreichelt. Hoffentlich entscheidet sich Mama, Alma zu behalten! Bitte, Oma, wenn du kannst, erscheine Mama im Traum und sag ihr, sie soll Alma zur Welt bringen! Bitte, Oma, bitte!!! Und nun werde ich für Alma beten …

Küsschen

Deine Nadja

 

40.

Liebe Oma,

Tante Elvira ist auch der Meinung, Mama solle sofort abtreiben. Die beiden haben heute gestritten.

Wir sind zu ihnen essen gegangen, denn Onkel Milo ist zurück und hat eine Pause. Er war sehr müde und hat sich nach dem Mittagessen hingelegt. Anton und Leo gingen in Leos Zimmer, um Gitarre zu spielen. Da sagte Tante Elvira zu Mama: «Ich weiss nicht, was du dir so viel überlegen musst. Abtreiben und fertig! Keine Frage!». «Ich kann es irgendwie nicht», entgegnete Mama. «Es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass mit meinem Okay das Kind getötet wird». «Ach, Quatsch», sagte Tante Elvira. «Das ist, weil du noch nie abgetrieben hast. Es ist ja keine Sache. Du schläfst ein und wenn du erwachst, ist alles vorbei. Dann bist du wieder frei und hast deinen Körper für dich. Ich habe auch einmal abgetrieben. Und da war ich auch so zwiegespalten wie du jetzt. Da sagte mir mein Frauenarzt: ,Es gehört zu der allgemeinen Bildung der Frau, auch mal eine Abtreibung zu erleben’. Und das hat mir damals sehr geholfen. Das war ein ganz guter Satz!»

Ich war platt. Ich dachte mir: Muss ich das auch eines Tages machen? Bin ich dann eine ungebildete Frau, wenn ich nicht abtreibe? Und als hätte Mama meine Fragen erraten, sagte sie zu Tante Elvira: «Ich bleibe lieber eine ungebildete Frau als dass ich abtreibe!». «Aber das ist doch dumm!», ereiferte sich Tante Elvira. «Du endest in der totalen Misere mit drei Kindern! Drei Hälse durchzufüttern ohne Mann und ohne Arbeit, ich weiss nicht, wie du dir das vorstellst, Mira! Da bist du aber ganz schön am Arsch, wenn du das machst, ganz klar!»

«Ich kann mir nicht vorstellen, abzutreiben! Alles in mir wehrt sich dagegen! Ich habe die Tomasis liebgewonnen! So sehr liebgewonnen, dass ich auch ihr Kind wie mein eignes liebgewonnen habe. Wer treibt ein Kind ab, wenn er es liebt? Auch wenn es die Familie Tomasi nicht mehr gibt, ich liebe ihr Kind!». «Und ich auch, Tante Elvira!», rief ich. «Ich will auch, dass die kleine Alma geboren wird!». Da starrte uns Tante Elvira ganz schön entsetzt an und meinte, dass Mama und ich nun wirklich spinnen. Und dass sie nicht weiter bereit sei, uns zu helfen, wenn wir solchen Blödsinn machen. Es habe alles seine Grenzen. «Ich habe meine Kinder. Sie werden mich unterstützen. Ich weiss, ich kann immer auf sie zählen». Dass Mama Tante Elvira das gesagt hat! Da war ich aber extrem stolz, Oma! Mama behandelt Anton und mich nun wirklich wie Erwachsene. Ist das nicht ein grosses Kompliment? Und Tante Elvira geht mit uns um, als wären wir noch kleine Kinder. Das macht mich rasend!

Unterwegs nach Hause, sagte Mama zu mir: «Weisst du, was auch noch ganz schlimm für mich sein wird, wenn ich abtreibe, Nadja?», «Was denn, Mama?» «Wenn ich das Kind töten lasse, dann werde ich auch nie unseren schönen zweiten Stock betreten können! Ich werde ihn nicht einmal anschauen können! Er wird eine ewige Wunde in mein Herz bleiben. Das wird mich kaputt machen! Ich kenne mich». «Mama, was ist, wenn wir die Tomasis anlügen, dass du abgetrieben hast, und heimlich Alma für uns behalten? Sie werden es ja nie erfahren. Wir werden sie ja sowieso nie mehr sehen», sagte ich zu ihr. «Das habe ich mir auch schon überlegt», antwortete Mama. «Aber wie? Die warten doch auf den Bescheid der Ärzte, dass ich abgetrieben habe.»

Kaum waren wir daheim, ging Mamas Natel los. Die Agentur hat angerufen und fragte, wann Mama ins Krankenhaus kommt, für die Abtreibung. Die Klinik hat angerufen. Irgendeine verärgerte Ärztin warf Mama vor, dass sie mit ihrer Gesundheit spiele, je länger sie mit der Abtreibung zuwarte. Sie ging natürlich davon aus, dass Mama abtreiben wird. Mama konnte nicht mehr, sie hat nur noch geweint. Es war schlimm! Jetzt schläft sie schon, Gott sei Dank!

Gute Nacht, Oma! Bitte, hilf!

Deine Nadja

 


Autor:in: Evelina Jecker Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung.