Interview mit Evelina Jecker-Lambreva

Nico Stenz

Y – Z Atop Denk 2023, 3(5), 2.

Abstract: Ein Interview mit Evelina Jecker-Lambreva über ihr Buch Im Namen des Kindes, das im Jahr 2022 im Braumüller-Verlag, Wien, erschienen ist.

Keywords: Alleinerziehung, Narzissmus, Kinderwunsch, Kinderpsyche, Mutter-Kind-Beziehung

Veröffentlicht: 30.05.2023

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Am Anfang war die Tat. Evelina Jecker-Lambreva präsentiert einen Krimi der anderen Art. Die Geschichte entfaltet sich in zwei Richtungen. Nach Aussen und nach Innen. Die Hauptprotagonistin Rebecca begeht zwei grausliche Morde und taucht ab. Die Suche Mayas nach Rebecca steht aber nicht so sehr im Zentrum, wie das Rätsel ihrer Motive. Es zeichnen sich Parallelen ab, bei denen eine klare Trennung von Täter und Opfer von normal oder krank verwischen. Der Leser wird in die Tiefen der Psychologie einer Mörderin hinabgeführt und wird gezwungen, seine eigene ethische Haltung zu hinterfragen. Keine einfache Aufgabe. Man kommt nicht herum, selbst mit Rebecca mitzufühlen, aber auch die Sorge und die Neugier von Maya zu teilen. Die erfahrene Klinikerin Evelina Jecker-Lambreva schafft es, den Leser selbst beobachtender Analytiker werden zu lassen und webt gekonnt psychologische Phänomene, wie sie einem in der Praxis täglich entgegentreten, in die Geschichte ein: Traum und Traumanalyse, Fehlleistungen, Narzissmus, Psychopathologie, Schuldempfinden, Selbstbestrafung, Wiederauferstehung und der starke Wunsch nach Selbstbestimmung. Ein gekonnt unterhaltsamer Roman mit tiefenpsychologischer Dimension.

 

Y: Liebe Frau Dr. Jecker-Lambreva, Ihr spannendes Buch räsonierte stark mit mir als Kliniker. Die Geschichte berührt, provoziert, macht betroffen und wirft einige Fragen auf. Sie begeben sich in Dimensionen psychologischer, medizinischer, gesellschaftlicher und ethischer Dimension. Sie sind selbst eine erfahrene Klinikerin, Psychiaterin und Psychoanalytikerin. Diente Ihnen persönliche Erfahrungen als Grundlage für Ihren Roman?

Evelina Jecker-Lambreva: Aus persönlichen Erfahrungen stammen nur die Themen des Romans. Die Handlung und die Romanhelden sind völlig frei ausgedacht. Die meisten Romanthemen entstehen bei mir aus Gesprächen mit Patienten und aus dem Austausch mit Berufskollegen. Davon ausgenommen sind mein autofiktionaler Roman Vaters Land und mein zweiter Bulgarien-Roman Entscheidung.

Y: Der Titel Im Namen des Kindes verweist auf dasjenige Element, welches nicht zur Sprache kommt. Wie können die Leser dies im Zusammenhang mit dem Roman verstehen?

Evelina Jecker-Lambreva: Der Titel ist eine Ableitung und Abwandlung des Dialogs zwischen Maya und Rolf auf Seite 160. Dort heisst es: „…Ich bin nicht bereit, den Kinderwunsch zweier Menschen zu verunmöglichen. Ich handle immer im Namen des Lebens. - „Im Namen des Lebens? Welches Lebens denn? Das der Eltern oder des zukünftigen Kindes? Diese ist eine der Kernfragen des Romans. Deshalb auch der Titel Im Namen des Kindes.

Y: Die ethische Dimension der künstlichen Befruchtung, welche in Ihrem Buch aus Sicht der Kinder verletzt wurde, scheint mir sehr zentral zu sein. Wie ist Ihre Erfahrung damit, dass in der westlich-grossstädtischen Kultur der zunehmende Anteil allein alleinerziehender Elternteile wächst, und wie wirkt sich dies Ihrer Meinung nach auf die Zunahme von Psychopathologie aus?

Evelina Jecker-Lambreva: Ich finde, diesbezüglich ist es für Schlussfolgerungen noch zu früh. Die persönliche und bewusste Entscheidung als Alleinerziehende:r zu leben, ist ein noch junges gesellschaftliches Phänomen. Es braucht eine längere Beobachtungszeit, um sagen zu können, welche Auswirkungen diese Lebensform auf die Psyche der Kinder haben wird. Der gesellschaftliche Wandel und der Wertewandel sind viel zu komplex, um daraus einfache Schlüsse ziehen zu können, die nur auf einzelnen Beobachtungen beruhen würden. Auch die Frage nach der Norm befindet sich im Wandel. Deshalb wage ich auch keine Prognosen.

Y: Wahrscheinlich ist auch nicht das ‚Alleinerziehen, sondern vielmehr die soziale, emotionale und kognitive Stabilität ausschlaggebend. Als Psychoanalytiker stellt sich mir aber schon die Frage, inwieweit das Fehlen eines Dritten Auswirkungen auf die Psyche des Kindes hat. Die Aufgabe einer alleinerziehenden Mutter, beider Rollen gerecht zu werden, erscheint mir persönlich oftmals der Quadratur des Kreises.

Evelina Jecker-Lambreva: Kein Mensch kann beiden Rollen gerecht werden, es braucht immer den Dritten. Wobei ich nicht sagen kann, wie diese Rollen bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren aussehen, ob es eine männliche und eine weibliche Rolle gibt, sowie wie gleichgeschlechtliche Elternpaare männlich und weiblich definieren. Damit habe ich bis jetzt keine klinischen Erfahrungen.

Y: Unterdessen existiert ein grosser Korpus an Studien, die die Wichtigkeit eines Vaters in der Entwicklung eines Kindes unterstreichen. Sie zeichnen ein Bild von abwesenden (sei es physisch oder emotional) Vätern. Wie ist Ihre klinische Erfahrung damit?

Evelina Jecker-Lambreva: Meine klinische Erfahrung zeigt mir immer wieder, dass die Sehnsucht nach einem präsenten, wohlwollenden und unterstützenden Vater bei beiden Geschlechtern stark ist. Sehnsucht, Schmerz und Trauer sind die Gefühle, die ich am häufigsten von Patient:innen mitgeteilt bekomme, bei denen der Vater entweder emotional abwesend ist oder die ihren Vater gekannt, aber früh verloren haben durch Tod oder Beziehungsabbruch nach Scheidung der Eltern. Wie es jedoch in Zukunft aussehen wird, wenn alleinstehende Frauen mit Kinderwunsch, die keine Partnerschaft eingehen möchten, durch Samenspende Kinder bekommen und diese Kinder ohne einen Vater aufwachsen werden, muss sich noch zeigen. Klar können männliche Bezugspersonen die Vaterrolle mehr oder weniger übernehmen, aber sie können meines Erachtens den Vater nicht vollständig ersetzen. Ob aber diese Kinder einen Vater vermissen werden, wenn sie nie erfahren haben, was ein Vater ist, kann wohl zum jetzigen Zeitpunkt niemand sagen.

Y: Ihre Antwort deckt sich durchaus mit der aktuellen Forschungslage1, welche die Vorteile eines anwesenden biologischen Vaters unterstreicht. Die beiden Hauptprotagonistinnen begingen einen Mord an ihren Müttern. Bei Rebecca scheint der drastische Befreiungsversuch einiges nachvollziehbarer zu sein als bei Maya. Was denken Sie, hat Maya zu diesem letzten Vergeltungsschlag getrieben?

Evelina Jecker-Lambreva: Was ich mir dabei überlegt habe, möchte ich hier nicht verraten, sonst beeinflusse ich ja meine Leser:innen in der Wahrnehmung des Textes. Jede:r Lesende soll sich seine eigene Hypothese bilden, was Maya zu diesem Vergeltungsschlag getrieben hat.

Y: Können Sie Ihre Ansicht zum weiblichen Narzissmus kurz darlegen?

Evelina Jecker-Lambreva: Ein sogenannter ‚gesunder Narzissmus kann als Charaktereigenschaft bei Frauen – wie bei allen Menschen – eine positive Auswirkung haben: Er kann sie in ihrer Selbstachtung, Selbstsorge, Selbstschutz, Selbstverwirklichung, Selbstbestätigung, aber auch in ihrer Zielstrebigkeit, Ehrgeiz, Einsatz für die eigenen Interessen und Durchsetzungsvermögen stärken. All das sind Eigenschaften, die ich mit einem nicht-pathologischen weiblichen Narzissmus assoziiere. Meiner Ansicht nach darf jede Frau so narzisstisch sein, wie sie will, solange sie nicht ihrem Kind, ihrem Partner oder ihrer Partnerin, ihrer Familie und ihren Arbeitskolleg:innen damit schadet. Sonst kommt es im Umfeld von Frauen insbesondere mit akzentuierten narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen oder mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen oftmals zu schwerwiegenden Problemen, Konflikten und Zerwürfnissen. Da sich immer alles um sie drehen muss, unabhängig davon, ob es sich um den offenen (grandiosen) oder um den verdeckten (vulnerablen) Typ des Narzissmus handelt, werden laufend Situationen produziert, die das Umfeld auf Dauer überfordern und viel Leid verursachen. – Da Kinder grundsätzlich mehr Zeit mit ihren Müttern verbringen, sind sie am meisten exponiert und am schwersten betroffen. Häufig sind sie narzisstischen Müttern schutzlos ausgeliefert. Eine narzisstische Mutter manipuliert, instrumentalisiert und dominiert ihr Kind, sie betrachtet es als ihr persönliches Eigentum, als Objekt oder als einen Teil von sich selbst. So gewährt sie ihm wenig Autonomie und ist Meisterin darin, im Kind Schuldgefühle und schlechtes Gewissen hervorzurufen. Das Kind hat sich nur gemäss ihren Vorstellungen zu verhalten. Alles andere wird entwertet, sanktioniert, ignoriert. Das alles kann für eine Mutter-Tochter-Beziehung verheerende Folgen haben, zumal sich die Tochter eine Mutterfigur wünscht, mit der sie sich identifizieren kann, die ihr Wärme, Kraft und Verständnis spendet. Nun aber ist sie mit einer Mutter konfrontiert, die gefühlskalt, desinteressiert, dominant, eigennützig und nur mit sich selbst beschäftigt ist. Solche Töchter sehe ich oft mit einer depressiven Störung in meiner Praxis.

Y: Was halten Sie von dieser These: Rebecca scheint genau nicht diesem Bild von Patient:innen zu entsprechen, welche unter dem Verlust und der affektiven kälte primär leiden. Sie wird aktiv, in ihr formte sich in der Adoleszenz eine Exit-Strategie um ihr Dilemma zu lösen. Der Doppelmord. Aber genau darin empfand ich sie mit ihrer Mutter identifiziert. Nämlich in der egoistischen Strategie, zwei Personen das Leben zu nehmen, in der Hoffnung, ihren Konflikt mit ihrer Mutter hierdurch lösen zu können. Ich behaupte, bewusst hat sie die Mutter, wie später dann auch Maya, abgelehnt, um eine Teilautonomie erhalten zu können. Unbewusst hat sie sich aber mit ihrer narzisstischen Mutter identifiziert.

Evelina Jecker-Lambreva: Danke, dass Sie mich so gut verstanden haben. Mit Ihren Überlegungen beantworten Sie auch Ihre Frage zu Mayas Vergeltungsschlag oben.

Y: Sie zeichnen Phänomene auf (Träume, Fehlleistungen, das unbewusste Strafbedürfnis), welche für die psychoanalytische Praxis zentral sind, und bieten dem Leser einen Einblick in die alltägliche Praxis. Könnten Sie kurz darlegen, wieso der Traum, die Fehlleistungen und das unbewusste Strafbedürfnis von Rebekka so zentral sind?

Evelina Jecker-Lambreva: Da kann ich leider wenig Auskunft geben. Wahrscheinlich ist beim Schreiben dieses Romans sehr viel klinische Erfahrung unbewusst mitgeflossen. Ich schildere, was meine Romanheldinnen und Romanhelden erlebt haben, was und warum sie (es) verdrängt haben könnten, was sie aktuell bewegt, wie sie empfinden und wie sie mit Gefühlen wie Liebe und Hass umgehen.

Y: Ganz beiläufig stellen Sie im Roman die Komplexität solcher Phänomene dar und zeigen, wie diese sich in das Geflecht von Vergangenem und aktuellen Erleben einreihen. So kann die Leserschaft hautnah selbst einen Aspekt unserer täglichen Arbeit als Psychoanalytiker:innen miterleben.

Evelina Jecker-Lambreva: Diesen Aspekt unserer täglichen Arbeit, nämlich „das Geflecht von Vergangenheit und aktuellem Erleben“ finde ich immer wieder von Neuem faszinierend. Schon einunddreissig Jahre lang.

Y: Grenzen erscheinen ebenfalls eine wichtige Thematik zu sein. Den Leser lassen Sie zum Teil im Ungewissen und lassen die Grenzen zwischen Pathologie und Gesundheit in der Schwebe. Was ist krank, was ist normal?

Evelina Jecker-Lambreva: Was sozusagen ‚krank‘ ist und was ‚normal‘, kann in der Postmoderne niemand mehr aus einer allgemeinen Aussenperspektive sagen. Es herrschen zunehmend die individuellen Normen, die individuell bestimmten Grenzen, die individuelle Moral, die individuelle Ethik. Der Individualismus und Pluralismus der postmodernen Gesellschaft sind diejenigen Phänomene, die die Grenzen zwischen Pathologie und Gesundheit verwischen, ja sogar langsam verschwinden lassen. Heute gilt jemand als krank, der oder die unter einem erheblichen Leidensdruck steht und nicht mehr in der Lage ist, aufgrund dieses Leidensdruckes sein Leben zu bewältigen und deshalb professionelle Hilfe sucht.

Y: Ihre Antwort trifft möglicherweise auf die Kategorie des Neurotischen zu. Wie sieht es aber mit sogenannten psychotischen Störungen aus, welche einen klaren Bruch mit ihrer Umwelt bedeuten? Bei Rebecca ist es nicht immer ganz klar, ob sie nicht doch einen psychotischen Anteil hat: Die Morde selbst passieren in quasi dissoziierten Zuständen, ihre Wahrnehmung ist danach stark verzerrt, sie nimmt Figuren wie aus einem Roman von Friedrich Dürrenmatt wahr. Vielleicht lässt sich diese Frage nicht gänzlich beantworten. Dennoch ist Rebeccas Lösungsstrategie, also der Doppelmord, mit einer „normalen-sozialen“ Realität kaum vereinbar. Sie hätte auch das Gespräch mit den beiden Mordopfern suchen können, um ihren Konflikt anzugehen.

Evelina Jecker-Lambreva: Das ist richtig. Allerdings ist Rebeccas Geschichte ist keine klinische Falldarstellung, sondern eine Geschichte aus einem fiktionalen Text, aus einem Roman. Wir können Rebecca nicht begutachten, so wie wir das mit realen Patientinnen und Patienten tun. Für mich ist es entscheidend, dass Rebecca als Romanheldin glaubwürdig wirkt.

Y: Rebekka und Maya scheinen Parallelen aufzuweisen.

Evelina Jecker-Lambreva: Parallelen sind sicher vorhanden. Aber diese mögen die Leserinnen und Leser selbst entdecken.

Y: Zum Schluss bezeichnen Sie Rebekka als Ihre Heldin, weshalb?

Evelina Jecker-Lambreva: Rebecca ist meine Romanheldin. Nicht mehr und nicht weniger. Ob sie eine Heldin nach gängiger Bedeutung des Wortes ist, soll jeder Leser und jede Leserin für sich entscheiden.

Y: Meine Gedanken hierzu waren, dass sie sich weigerte, ihr Schicksal passiv zu akzeptieren und versuchte aktiv, einen Weg aus ihrem Konflikt zu finden. In den Definitionen für Held, findet man: „Jemand, der sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihm Bewunderung einträgt“. Nun, so gesehen gewann Rebecca auch meine Sympathie.

Evelina Jecker-Lambreva: Das freut mich sehr!

Y: Evelina Jecker-Lambreva, herzlichen Dank für das Interview.

 


1 https://www.lse.ac.uk/News/Latest-news-from-LSE/2017/03-March-2017/Children-born-to-single-mothers-benefit-when-biological-father-joins-family [23.05.2023].

 

Interviewte:r: Evelina Jecker Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich.

Interviewer:in: Nico Stenz ist als eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut in psychoanalytischer Psychotherapie in eigener Praxis in Zürich niedergelassen. Außerdem arbeitet er an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (ehemals Burghölzli). Selbst hält er Vorträge zu Psychopathologie, Traum und Traumdeutung.