Hilmar Schmiedl-Neuburg

Y – Z Atop Denk 2021, 1(12), 3.

Abstract: Rezension und philosophisch-psychoanalytische Analyse des Films Lars and the Real Girl von Craig Gillespie (2007).

Veröffentlicht: 22.12.2021

Artikel als Download: pdfLiebe, Wahn und Wachstum

 

1. Lars and the Real Girl. Einleitende Gedanken.

Lars and the Real Girl (2007) ist ein kanadisch-amerikanisches, tragikomisches romantisches Drama, dessen Drehbuch Nancy Oliver verfasste und bei dem Craig Gillespie Regie führte.1

Im Mittelpunkt des Films steht der schüchterne Lars Lindstrom, gespielt von Ryan Gosling, der in einer amerikanischen Kleinstadt in Wisconsin zurückgezogen in der Garage des Hauses seines Bruders Gus lebt. Eines Tages erhält Lars die Lieferung einer lebensechten Puppe, einer sex-doll, die er im Internet geordert hatte, stellt diese jedoch seinem Bruder und dessen schwangerer Frau Karin als seine brasilianische Freundin Bianca vor, die ihn trotz ihrer Lähmung, die sie an einen Rollstuhl fesselt, besucht. Da Lars die Puppe gänzlich wie einen Menschen aus Fleisch und Blut behandelt, arrangieren Gus und Karin eine Konsultation mit der Ärztin und Psychotherapeutin Dagmar, die bei Lars eine Wahnvorstellung diagnostiziert und ihn unter dem Vorwand in Behandlung nimmt, dass Biancas Leiden regelmäßige ärztliche Betreuungstermine brauche und Lars sie dabei begleiten solle. In der Hoffnung, mit Lars seine Kontaktängste und seinen Wahn durchzuarbeiten, lässt sich Dagmar darauf ein, Bianca wie einen wirklichen Menschen zu behandeln und ermuntert auch Gus und Karin, ein Gleiches zu tun. Im Weiteren lassen sich auch die Bewohner der Kleinstadt auf das Spiel ein und behandeln. Bianca als geschätztes neues Gemeindemitglied, wodurch Lars über Bianca nun viel mehr mit anderen Menschen in Kontakt gerät. Der Film verfolgt, wie sich im Laufe der Tage und Wochen Lars‘ Beziehung zu Bianca entwickelt, sich in ihrem Verhältnis zunehmend Krisen zeigen und gleichzeitig Lars‘ Beziehungen zu seinen Mitmenschen und auch zu seiner Arbeitskollegin Margo sich intensivieren. Eines Tages, nachdem er Bianca bewusstlos daliegend entdeckt hatte, erzählt Lars, dass Bianca im Sterben liege. Unter großer Anteilnahme der kleinstädtischen Gemeinde erliegt Bianca kurz darauf ihrem Leiden und wird mit einer feierlichen Beerdigung verabschiedet. Das Filmende sieht Lars Margo bitten, ihn auf einem Spaziergang zu begleiten.

Der Film Lars and the Real Girl lädt uns zu verschiedenen philosophischen wie psychoanalytischen Reflexionen ein.

Wie stehen, so lässt uns der Film philosophisch fragen, Wahn und Realität zueinander, ein Thema, welches schon im Titel des Films anklingt, wenn von dem Real Girl gesprochen wird. Was ist real an Bianca? Ist sie eine online spezifizierte und bestellte, fabrikmäßig hergestellte, anatomisch korrekte Sexpuppe oder ist sie Lars‘ Freundin – und vielleicht Mutterersatz, ein geschätztes Mitglied der kleinstädtischen Gemeinschaft? Auch wenn die Antwort auf diese Frage wohl deutlich zur ersten Möglichkeit tendiert, sollten wir innehalten – dies ist stets eine gute philosophische Tugend. Wie würden wir diese Frage beantworten, wenn nicht nur diese dörflich-kleinstädtische Gemeinschaft, sondern alle Menschen Bianca als einen Menschen behandelten? Würden wir nicht über unser Urteil in Zweifel geraten und würden uns nicht vielleicht die Anderen einen Wahn attestieren, in Bianca nur eine Puppe zu sehen? Mit anderen Worten, erkenntnistheoretisch und wahrheitstheoretisch gesprochen, woher wissen wir, was real ist und was nicht, was wirklich und was wahr und was Wahn und was Falschheit ist? Können wir zur Erkenntnis der Wahrheit und Wirklichkeit einfach unseren eigenen Sinnen oder unseren persönlichen gedanklichen Schlüssen vertrauen oder eher den geteilten Deutungen der menschlichen Gemeinschaft? Und was bedeutet eigentlich Realität – geht es hier um Materialität oder eher um Wirklichkeit? Denn zu wirken, vermag die Figur der Bianca zweifelsohne.

Auch klinisch sind diese philosophischen Fragen nach Wahn, Wahrheit und Realität von Interesse. Denn worum handelt es sich psychopathologisch im Fall von Lars? Ist in seinem Fall eine Wahnstörung zu diagnostizieren, vielleicht codiert nach ICD-10 als isolierte Wahnstörung, F.22.0? Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers (1913) formulierte zur Diagnose eines Wahns drei zentrale Wahnkriterien: Subjektive Gewissheit des Wahns, Unmöglichkeit seines Inhalts und seine Unkorrigierbarkeit durch Erfahrung oder zwingende Schlüsse, drei Kriterien, die in Lars‘ Fall erfüllt zu sein scheinen. Ist Lars also psychotisch und leidet an einer speziellen, idiosynkratischen Form eines Liebeswahns? Und leidet die dörflich-kleinstädtische Gemeinschaft unter einer Art massenhaft ausgedehnten folie à deux, also einem induzierten, symbiotischen Wahn, bei dem psychisch Gesunde aufgrund enger Bindungen, das Wahnsystem des wahnsinnigen Individuums in ihrem Erleben übernehmen?

Aber falls es sich wirklich um eine Wahnerkrankung Lars‘ handelt, wie verträgt sich dieser Befund mit Lars‘ Entwicklung im Film? Trägt nicht gerade sein ‚Wahn‘ zu seinem menschlichen Wachstum und seinem Erwachsenwerden bei? Ermöglicht ihm nicht seine ‚wahnhafte‘ Liebesbeziehung zu Bianca einige seiner psychischen Traumata zu überwinden, als Mensch nachzureifen, seine Neurosen heilen zu lassen und zum liebesfähigen erwachsenen Mann zu werden? Ist seine scheinbare ‚Wahnerkrankung‘ nicht somit ein zentraler Schritt zu seiner Heilung, Reifung und Gesundung? Und falls dies so ist, können wir wirklich von einer Wahnerkrankung sprechen, oder handeltes sich bei Lars‘ Verhalten noch um etwas anderes? Einen interessanten Hinweis jedenfalls gibt der Film, als er Lars Bianca aus Cervantes‘ Don Quijote (1605/1615) eine Passage über Dulcinea vorlesen lässt, denn auch Don Quijote durchlebt einen Wahn, zentriert um eine verkannte, geliebte Frauengestalt, welcher aber am Ende des Romans Heilung und Aufklärung erfährt.

Allerdings lässt uns der Film nicht nur über Wahn und Realität und psychische Gesundung nachdenken, sondern auch über die Liebe. Was ist Liebe eigentlich und was ist ihr Wirken? Im Film erscheint die Liebe phänomenologisch in vielen unterschiedlichen Formen, etwa als Lars‘ Liebe zu Bianca und später als seine Liebe zu Margo, als seines Bruders Gus‘ Liebe zu Lars, als die Liebe Lars‘ Schwägerin zu ihrem Kind und als die Liebe der Bewohner der Kleinstadt zu Lars und seiner Familie. So unterschiedlich die Liebe in ihren vielen Formen aber erscheint, so ähnlich scheint sie in ihrem Wirken zu sein, denn stets trägt sie in diesem Film zu Wachstum und Gesundung bei. Dies gilt selbst dann, wenn die Liebe als Krankheitssymptom aufzutreten scheint, wie im Fall der Liebe Lars‘ zu Bianca. Denn obgleich hier Liebe als Teil einer Wahnerkrankung, vielleicht einer sehr besonderen Art von Liebeswahn, erscheint oder auch, für den Fall, dass Lars‘ möglicherweise gar nicht wirklich an Biancas Menschlichkeit glaubt, als fetischistische Perversion in Form einer Agalmatophilie, also einer sexuellen Fetischisierung insbesondere nackter Statuen, aufgefasst werden könnte, trägt sie, die Liebe, doch auch und gerade im Falle des Lars zu dessen Heilung und Gesundung und seinem realitäts- und bindungsfähigen Erwachsenwerden bei.

Indem also Lars and the Real Girl auf diese Art basale Themen und Fragen zu Liebe und Geschlecht, zu Wahn und Realität, Individuum und Gemeinschaft, zu Krankheit und Heilung, menschlichem Wachstum und Erwachsenwerden verhandelt, zeigt er, wie Film als Medium der Reflexion grundlegender menschlicher Fragen dienen kann, deren tieferem Verständnis sich Philosophie und Psychoanalyse seit je auf je ihre eigene Weise gewidmet haben. Aus Sicht dieser beiden Formen menschlicher Selbstverständigung möchte ich nun, auf Lars, auf Bianca und auf die kleinstädtische Gemeinschaft blickend, einige dieser Grundfragen aufgreifen.

 

2. Lars

Betrachten wir die Figur des Lars. Früh verlassen von seinen Eltern – seine Mutter stirbt bei seiner Geburt, sein Vater zieht ihn zwar auf, verstirbt aber ebenfalls später – erscheint es fast, als ob Lars niemals wirklich geboren und niemals erwachsen wurde, weswegen es wohl kein Zufall ist, dass sein Wahn genau parallel zur Schwangerschaft seiner Schwägerin verläuft, mit dieser beginnt und auch mit ihr endet. Während das Kind im Bauch der Mutter heranreift, reift auch Lars heran und durchlebt in seinem Wahn eine Zeit als Säugling und Kind, als Teenager und schließlich als Erwachsener.

Zu Beginn erscheint uns der Protagonist als Baby oder gar als Fötus. Er lebt in der Garage des Elternhauses, als sei er noch nicht aus dem Uterus gefahren, zumindest hat er das Elternhaus noch nicht wirklich verlassen. Im Arztzimmer legt er sich nieder in embryonaler Stellung und immer wieder dient ihm eine Decke als Übergangsobjekt. Selbst sein Umgang mit Bianca ließe sich als Puppenspiel eines Kindes verstehen, vielleicht sogar – eingedenk der letztlichen Heilsamkeit seines wahnhaften Spiels mit ihr – als eines Spieles wie in der psychotherapeutischen Spieltherapie, in welcher der kindliche Patient sein Leiden stellvertretend heilsam durchspielt. Denn dass Lars leidet, ist unmittelbar ersichtlich, wenn ihn alle Berührung brennt, die Berührungswärme, für ihn schon ein Übermaß an Libido, seine innere Vereisung zu schmelzen beginnt und ihn wirklich lebendig werden lässt, was aber auch für ihn bedeutet, seinen Schmerz nie erfahrener mütterlicher Liebe zu fühlen.

Vor diesem Hintergrund erscheint Lars‘ Wahn vielleicht gar nicht als ein solcher, sondern eher wie die Phantasie eines Kindes, das in seinem phantastischen Spiel aufgeht und sich – im therapeutischen Kontext – Heilung und Wachstum erspielt. Seine Liebe zu Bianca könnte so der Liebe ähneln, welche ein Kind zu einigen seiner Spielsachen empfindet, insbesondere, wenn diese mit Donald Winnicott (1953) gedacht, übergangsobjekthaft für jemanden, etwa die Mutter, einstehen und einen spielerischen Übergangsraum der Phantasie eröffnen. Das Mitmachen der Familie und der Stadtbewohner erscheint so weniger als eine massenhaft ausgedehnte folie à deux, sondern mehr wie das Mitspielen des Spieltherapeuten im kindlich-phantastischen Spiel. Die Art, in der sich Lars‘ Wahn zeigt, und seine Wahrnehmung der Realität, ähnelt insofern vielleicht nicht zufällig eher dem Verhältnis eines Kindes zu seiner Phantasiewelt, als der des Wahnkranken zu seinem Wahn. Die Realität wird hier, wie es scheint, anders durch den Wahn verzerrt als üblicherweise bei einem Wahn zu erwarten, denn eigentlich steht sie, die Realität, zu diesem Wahn wie zu einer spielerischen Phantasie, zu einer träumerischen Reverie, welche die Realität ergänzt und der die Realität zugleich latent zugrunde liegt, denn diese Phantasie dient der Heilung realer Lebensprobleme.

In seinem Wahnspiel reift und entwickelt sich Lars denn auch zunehmend. Er wird lebendiger, sichtbar in seiner zunehmenden Toleranz menschlich-warmer Berührung, was im Außen im Übergang vom Winter zum Frühling, sichtbar im Schmelzen des Schnees deutlich wird. Er durchlebt den Ödipuskomplex. Er schläft mit seiner ‚Mutter‘ Bianca in ihrem pinken Schlafzimmer, welches auch seiner wirklichen Mutter gehörte, ohne mit ihr zu schlafen, nur ein Kuss geschieht. Er erfährt wie Bianca zunehmend in der Gemeinde ein eigenes Leben erhält, unabhängig von ihm, ihrem Sohngatten Lars. Psychoanalytisch gesprochen wird Bianca Lars zu einem ganzen Objekt, unabhängig vom Kind, und Lars gerät zunehmend in eine, in der Sprache Melanie Kleins (1962), depressive, den Anderen um seinetwillen berücksichtigende Position – so vermag er wirklich Sorge um Bianca zu empfinden. Das ‚Nein‘ der ‚Mutter‘ Bianca zu Lars‘ Eheangebot gleicht zudem dem Nein des Vaters zum ödipalen Begehren des Sohnes und erinnert an Jacques Lacans (1955/1956) nom/n-du-père.

So wie bei Lacan der ödipale Durchgang durch das/den nom/n-du-père den Eintritt des Kindes in wahre Subjektivität, Triangulation und in die Sphäre des Allgemeinen kennzeichnet, wendet sich Lars entsprechend zunehmend dem Außen und dem Allgemeinen zu. Er lässt sich, wie ein Teenager, von seinem älteren Bruder, vielleicht stellvertretend für den Vater, u.a. in Lebens- und Liebesdingen beraten, erfährt dort wiederum die, die depressive Position kennzeichnende Bedeutung von Sorge, Schuld und Wiedergutmachung und Absehen von sich selbst an Gus‘ eigenem Lebensbeispiel und versucht nun, sich eine Identität zu geben, etwa sich an allgemeine Lebensregeln und -prinzipien zu halten, z.B. nicht untreu zu werden. Lars entwickelt so die Fähigkeiten zu Identität und Intimität, für den Psychoanalytiker Erik Erikson (1950) zwei zentrale Entwicklungsschritte der Teenager- und Jungerwachsenenzeit.

Auf diese Weise bewegt sich Lars in seiner ödipalen Frustration zunehmend von der ‚Mutter‘ Bianca fort und in die Welt außen hinein – man denke besonders an die pubertäre „Peergroup“-Szene beim Bowling und Lars‘ Bowlen mit der pinken, so auf die Mutter verweisenden Kugel mit der Nummer 14, vielleicht ein Hinweis auf sein Alter zu diesem Zeitpunkt. Als ein solcher ‚Teenager‘ bewegt er sich zugleich aber auch auf eine andere Frau, auf Margo zu, ein verwandter kindlicher Geist – man denke an ihre Teddybärensammlung, welche im Übrigen selbst symbolisch ist, da der Teddybär, in seiner Kuscheligkeit zugleich ein Raubtier, den Ernst des späteren Erwachsenseins in Aggression und Sexualität in sich birgt. Zwar noch hin- und hergerissen zwischen Bianca und Margo, lässt sich Lars von Margo wirklich, handschuhlos, beim Händeschütteln berühren, was die Puppe Bianca niemals könnte, ohne dass ihn diese Berührung Margos noch in gleichem Maß brennt wie früher.

In dieser Beziehung zu Margo reift Lars zum Erwachsenen heran, Biancas Krankheit und Tod erlauben ihm nun einen wirklichen ödipalen Verzicht auf seine ‚Mutter‘ Bianca und ermöglichen ihm stellvertretend an Bianca einen wirklichen Abschied von seiner nie gekannten Mutter, eine tiefe Trauer um sie und eine erwachsene Öffnung zu Leben und Beziehung. So kann dann Lars‘ Wahnspiel mit der Geburt des Kindes enden, denn wie das Kind seiner Schwägerin geboren wird, ist nun auch Lars geboren, aufgewachsen und erwachsen geworden.

Dieses Erwachsenwerden Lars‘ wird in der Rede des Priesters vorgeschattet,wenn dieser aus 1 Korinther 13 zitiert: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“ Und so wie der Korintherbrief fortfährt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unterihnen.“, ließe sich auch Lars‘ Entwicklung beschreiben.2

 

3. Bianca

Aber auch die Figur Biancas wirft zahlreiche Fragen und Themen auf. Neben ihrer therapeutischen Funktion – schließlich ist sie, so Lars, auch Krankenschwester –, sei es als Puppe in Lars‘ Spieltherapie oder sei es gleichsam, vielleicht auch als eine schweigsam-abstinente, gleichschwebend aufmerksam zuhörende Psychoanalytikerin, die der Entwicklung ihres Analysanden Lars lauscht, werden an Bianca verschiedene weitere psychoanalytische und philosophische Aspekte auffällig.

So verknüpft Bianca in Personalunion zwei sonst oft gespaltene männliche Phantasien von der Frau und lässt damit die ödipale Thematik anklingen. Denn als Sexpuppe ist sie eine Hure, zudem noch exotisierend fremd als Brasilianerin vermarktet, aber Bianca ist auch, so Lars, Dänin und damit verwandt und vertraut – man vergesse nicht, dass Wisconsin, der Spielort des Films, einer der US-Staaten ist, in dem sich zahlreiche Einwanderer aus Skandinavien niedergelassen haben und auch Lars Lindstroms Name legt hiervon Zeugnis ab – sowie Missionarin, worin zugleich die Missionarsstellung anklingt, d.h. Hure und Heilige zugleich. Zusammen mit der Frage problematischer männlicher Frauenbilder lässt die Figur Biancas so auch Probleme der Exotisierung des Fremden, Anderen, sei es ethnisch oder geschlechtlich, sowie die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Sexarbeit und ihren Abwandlungen und Substituten, hier in Form einer Sexpuppe, aufscheinen – so vermerkte etwa Nancy Oliver, Drehbuchautorin des Films, dass sie die Inspiration zu Bianca durch eine reale Website, Realdoll.com, erhielt.

Auch verhandelt Bianca in sich als Figur die zwei großen Grenzen des Menschseins, Geburt und Tod. Biographisch waren diese beiden Grenzen für Lars zutiefst verbunden, da mit seiner Geburt zugleich seine Mutter starb, eine Parallele zur fiktiven Biographie Biancas, die zusätzlich zu allen genannten Beziehungen zwischen beiden auch eine Identifikation Lars mit Bianca anklingen lässt. Ebenfalls fällt in diesem Zusammenhang auf, wie Bianca zu Filmbeginn als Puppe in einer Box, wie eine Leiche in einem Sarg gebracht und sodann vom Tode zum Leben erweckt wird und wie sie, als die Geburt des Kindes der Schwägerin ansteht, erkrankt und stirbt und so, hierin ähnlich seiner realen Mutter, die Geburt Lars‘ aber nun als eines lebendigen, eigenständigen Menschen ermöglicht. Das dies Sterben in einem See, dem archetypischen Ort der Geburt, man denke an das Fruchtwasser wie das Taufbecken, erfolgt, ist nicht zufällig.

In besonderem Maß jedoch lässt die Figur Biancas ein mit dem Geburtsthema verbundenes anderes Thema aufscheinen, nämlich die Erschaffung einer künstlichen Frau durch einen Mann. In Umkehr der Geschlechter und in Umkehr der Generationenfolge, also der beiden Strukturen, die für Freud das Soziale ordnen und deren Anerkennung die erfolgreiche Passage durch den Ödipuskomplex kennzeichnet, erschafft, ‚gebiert‘ der Mann Lars die Frau Bianca und der Sohn Lars die Mutter Bianca und, wie eine Mutter um ihren Sohn, kümmert sich Lars denn auch um diese. Erst Lars‘ weitere Entwicklung wird diese präödipalen Verkehrungen lösen und in eine ödipale Ordnung bringen. In einem mit der mit Geschlechts- und Generationenumkehr verbundenen präödipalen Omnipotenzphantasie, alles sein zu können, Mann und Frau, Mutter und Sohn, zeigt sich in diesem Handeln Lars‘ zugleich eine weitere grundlegende Phantasie, nämlich der Gebärneid des Mannes, für Karen Horney (1926) das Gegenstück zum Penisneid der Frau.

Angesichts seiner Impotenz zu Schwangerschaft und Geburt und der damit verbundenen Minderwertigkeitsgefühle, oft verbunden mit einer männlichen Angst vor dem Weiblichen, versuche, so Horney, der Mann im Handwerk, in der Kunst, im Erschaffen von Dingen ein Substitut zum Gebären von Leben zu finden. Die Krönung eines solchen männlichen Begehrens aber ist die handwerkliche Erschaffung von Leben, sei es projiziert in den Himmel in Form eines die Welt und das Leben erschaffenden Vatergottes, statt einer gebärenden Muttergöttin, oder sei es in Form der künstlichen Erschaffung des Lebens und insbesondere der Frau durch den Mann.

Insofern hat Lars mit seiner Kreation der Bianca illustre Geistesverwandte. In den Metamorphosen des Ovid findet sich der Mythos des Bildhauers Pygmalion, welcher ob schlechter Erfahrungen mit Frauen misogyn geworden, sich daran macht, eine elfenbeinerne, fast lebendig anmutende Frauenstatue zu erschaffen, welche er wie einen Menschen behandelt, und sich in diese Statue verliebt. Pygmalion allerdings benötigt noch die Hilfe der Aphrodite, der Göttin der Liebe, denn erst diese verleiht der Statue Leben, so dass diese sich Pygmalion vermählen und ihm ein Kind zu gebären vermag. Ab dem 18. Jahrhundert erhält die elfenbeinerne Frauenstatue Pygmalions in der Rezeption den Namen Galateia, die Milchweiße, und sicher nicht zufällig bedeutet Bianca übersetzt, die Weiße, Reine, Glänzende, so dass in beiden Figuren Muttermilch und sexuelles Begehren zusammenfinden. Der Stoff des Pygmalion-Mythos faszinierte daher viele männliche Dichter, gleichsam von Berufs wegen befasst mit dem Verhältnis von „Gebären“ und Mannsein, wie die zahlreichen Aufnahmen dieses Stoffes bei Rousseau (Melodrama Pygmalion 1770), Goethe (Gedicht Pygmalion 1767), Eichendorff (Gedicht Das Marmorbild 1818) und vielen anderen zeigen.

Bei Rousseau emanzipiert sich der männliche Schöpfer auch gänzlich von weiblich-göttlicher Hilfe, denn dem Mann der Moderne gelingt die Schöpfung weiblichen Lebens nun vollständig ohne weibliche Beteiligung. Mit dem letzten Schlag des phallischen Meißels wird bei Rousseau Galathée lebendig. Doch wie Bianca ermöglicht sie nur das narzisstische Selbstgespräch ihres männlichen Schöpfers mit sich selbst, keinen echten Dialog zweier, einander anderer Menschen oder beider, einander fremder  Geschlechter, denn als sie sich berührt, spricht Galathée „ich“ und als sie Pygmalion berührt, sagt sie „auch ich“. Der für den Mann fremden Andersheit der Frau vermag Pygmalion so sich nicht zu nähern. Stattdessen schafft er eine Frau nach seinem männlichen Bilde und unter seiner männlichen Herrschaft und verdrängt so seinen Gebärneid, wie auch seine Angst vor der Fremdheit des anderen Geschlechts.

In E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1816), später auch umgesetzt als Ballett Coppélia (1870), gewinnt der Pygmalionsstoff noch an weiteren Aspekten. Hier fallen etwa in Form von Coppelius und Nathanael die Rollen des männlichen Schöpfers der künstlichen Frau, hier die Holzpuppe Olimpia, und ihres männlichen Liebhabers auseinander, ähnlich wie auch Lars Biancas Liebhaber sein möchte, aber nur begrenzt ihr Schöpfer ist, indem er zwar ihre Spezifikationen online bestimmt, aber sie nicht selbst herstellt. Lars steht damit zwischen Pygmalion und Nathanael, wobei er mit letzterem den Wahnsinn wie den Topos des Ineinandergreifens von Geburt und Tod teilt, da der Name Nathanael sowohl auf das Natale, Geburtliche, wie das Thanatale, Todeshafte verweist. Anders als Nathanael teilt aber Lars mit Pygmalion den glücklichen Ausgang seiner Geschichte, und dabei, im Unterschied zu Pygmalion, nicht mit der, wenn auch belebten, Statue, sondern sogar mit einer wirklichen Frau.

Auch die moderne männliche Faszination am Erschaffen weiblicher Roboter und Androiden, etwa im Film Ex Machina (2015), aber auch schon in Fritz Langs Metropolis (1927), wie auch in Her (2013) oder Bladerunner 2049 (2017), wiederholt, fast zwanghaft, auf moderne technologische Weise diesen alten Topos. Der Mann erschafft eine künstliche Frau und glaubt, als ihr Schöpfer nicht nur seine Minderwertigkeitsgefühle angesichts des weiblichen Gebärens mit seiner eigenen Schöpferkraft überwunden zu haben, sondern zugleich auch, seine tiefe Angst vor der ihm fremden Weiblichkeit beruhigend, das Weibliche als sein eigenes Werk gänzlich zu verstehen und zu beherrschen. Doch selbst wenn das Weibliche so vom männlichen Schöpfer vermeintlich sicher und gehorsam in Maschinenform gebannt wurde, zeigen all diese Filme mehr oder weniger eindringlich in der Eigenständigkeit und sogar Bedrohlichkeit der künstlichen Frauengestalten, dass es sich bei diesem Unterfangen um nichts anderes handelt, als eine männliche Illusion.

 

4. Die Anderen

Nach diesen Blicken auf Lars und Bianca noch ein paar Worte zu den Anderen, den Einwohnern der Kleinstadt in diesem Film: Wie oben angedeutet, könnte man zuerst den Eindruck haben, einer massenpsychologisch ausgeweiteten folie à deux gewahr zu werden, bei genauerer Betrachtung und Einfühlung aber erscheint die kleinstädtische Gemeinschaft für Lars eher wie ein kollektiver Spieltherapeut, der oder die sich tief und spielend-ernsthaft, reveriegleich auf das Phantasiespiel des Kindes einlässt, mitspielt und das Kind so auf seinem Gesundungsweg begleitet. Passend kennt das Englische dazu ein Sprichwort: It takes a village to raise a child. Die dörflich-kleinstädtische Gemeinschaft ermöglicht dem Kind Lars zum erwachsenen Individuum zu werden. Nachbeeltert durch mütterlich-großmütterliche Figuren, wie besonders die Ärztin und die alten Frauen in ihrem Umgang mit Lars und Bianca, kann der mütterlich depravierte Lars zum erwachsenen Mann heranreifen.

Diese kleinstädtische Gemeinschaft in Wisconsin erscheint so als Ideal amerikanischer kommunitaristischer Denker, in der seitens der Gemeinschaft eine liebevolle Akzeptanz auch sehr sonderbarer und höchst individueller Weisen des Mensch-Seins herrscht. Umso auffälliger wie bedauerlicher ist allerdings dabei, dass es sich bei diesem amerikanisch-kommunitaristischen Paradies der gemeinschaftlichen Akzeptanz radikaler individueller Andersheit zugleich doch um eine weitgehend weiße Idylle mit nur einigenwenigen Token-Minderheiten und mit vergleichsweise stereotypen Geschlechtsrollender Frauen und insbesondere der Männer handelt.

 


1 Bei den Oscarverleihungen 2008 wurde Nancy Olivers Drehbuch in der Kategorie Bestes Originaldrehbuch nominiert, während Ryan Gosling für seine Rolle als Lars bei den Golden Globe Awards 2008 in der Kategorie Bester Hauptdarsteller – Komödie oder Musical nominiert wurde.

2 Hierin klingt zugleich ein filmischer Verweis Gillespies auf Ingmar Bergmans Film Wie in einem Spiegel (1961) an, in welchem ebenfalls eine Wahngeschichte, hier der jungen Karin – man denke auch an Karin in Gillespies Film –, und der familiäre Umgang mit diesem Wahn erzählt wird. Den Hinweis auf den Korintherbrief wie auf Bergmans Film verdanke ich David Lauer.

 

Literaturverzeichnis

Rezensierter Film:

Lars and the Real Girl. Canada/USA 2007. Regie: Craig Gillespie. 106 min.

 

Weitere Literatur:

Cervantes (2008 [1605/1615]): Don Quijote von der Mancha. 2. Bd., München: Carl Hanser Verlag.

Eichendorff, Joseph von (2008 [1818]): Das Marmorbild. Stuttgart/Ditzingen: Reclam.

Erikson, Erik (1993 [1950]): Childhood and Society, New York: W. W. Norton & Co.

Goethe, Johann Wolfgang von (1965 [1767]): Pygmalion. Annette, 2. Aufl., Faksimile-Neudruck der Ausgabe Leipzig 1767. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag, S. 73-81.

Hoffmann, E.T.A. (2018 [1816]): Der Sandmann. Stuttgart/Ditzingen: Reclam.

Horney, Karen (1926): „Flucht aus der Weiblichkeit“. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XII (1926), S. 360–374.

Jaspers, Karl (1948 [1913]): Allgemeine Psychopathologie. Berlin/Heidelberg: Springer.

Klein, Melanie (1962): Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta.

Lacan, Jacques (1997 [1955/1956]): Seminar III. Die Psychosen (1955–56). Weinheim/ Berlin: Quadriga.

Ovid (1994): Metamorphosen. lat./dt., Stuttgart/Ditzingen: Reclam.

Rousseau, Jean Jacques (2012 [1770]): Pygmalion. Neuilly sur Seine: Ulan Press.

Winnicott, Donald (1969 [1953]): „Übergangsobjekte und Übergangsphänomene.

Eine Studie über den ersten, nicht zum Selbst gehörenden Besitz“. In: Psyche Nr. 23 (1969).

 

Weitere Medien:

Wie in einem Spiegel (Såsom i en spegel) (Film). Schweden 1961. Regie: Ingmar Bergman. 85 min.

Coppélia (Ballett). Frankreich 1870. Libretto: Léo Delibes.

Ex Machina (Film). United Kingdom 2015. Regie: Alex Garland. 108 min.

Her (Film). USA 2014. Regie: Spike Jonze. 126 min.

Metropolis (Film). Deutschland 1927. Regie: Fritz Lang. 153 min.

Bladerunner 2049 (Film). USA 2017. Regie Denis Villeneuve. 164 min.