Britta Reiche

Y – Z Atop Denk 2022, 2(2), 3.

Abstract: Eine Rezension des 2021 unter dem Titel Mentalisieren des Körpers (277 Seiten) im Klett-Cotta-Verlag erschienenen und von Ulrich Schultz-Venrath verfassten fünften Bandes der Reihe Mentalisieren in Klinik und Praxis.

Keywords: Rezension, Psychoanalyse, Psychotherapietheorie, Mentalisieren, Körper

Veröffentlicht: 25.02.2022

Artikel als Download: pdfRezension: Schultz-Venrath, Ulrich (2021)

 

In der von Ulrich Schultz-Venrath herausgegebenen Reihe Mentalisieren in Klinik und Praxis ist nun der von ihm selbst verfasste fünfte Band Mentalisieren des Körpers erschienen. Erstmals wird dem leiblichen Körper ein gebührender Platz im Mentalisierungsmodell und der davon abgeleiteten Psychotherapie eingeräumt. Dabei bezieht sich die Mentalisierungstheorie auf die Bindungstheorie Bowlbys und seinen Schülern sowie deren Repräsentanz-Entwicklung durch frühes „Spiegeln“ der Affekte und Emotionen. Schon Freud hatte psychogene Körpersymptome benannt, in seiner Zeit wurden aber sogenannte „hysterische Schmerzen“ als Ausdruck einer psychosexuellen Fixierung im Rahmen eines Triebkonflikts gesehen – die Mentalisierungstheorie erforscht dagegen eher die Regulation früher Affekterfahrungen.

Im mentalisierungsbezogenen Erstinterview wird das Narrativ von Patient*Innen u.a. nach körperbezogenen Metaphern untersucht, die z.B. verleugnete seelische Verletzungen symbolisieren. „Es ist, als ob mich ein Blitz durchfährt“ – eine Formulierung, die auf den Doppelsinn von Körper und Psyche verweist.

Das Buch besteht aus sechs Kapiteln, die Psychotherapeuten mit dem Körper in der Psychosomatik ebenso vertraut machen wie mit den Konzepten des „mentalisierenden Selbst“ (nach Fonagy u.a.) und der mentalisierungsfördernden Psychotherapie (MBT).

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem komplexen Thema bezüglich der Entwicklung eines affektiven und schließlich mentalisierenden Selbst und der Frage „wo ist der Körper im Mentalisierungsmodell?“. Unter anderem wird die Überbetonung der dyadischen Bindungsbeziehung in der westlichen Kleinfamilie hinterfragt. Der Blick auf das afrikanische Dorf, in dem Kleinkinder als „Auszubildende“ gesehen werden und eher mit dem Blick auf die Welt vom Körper weggetragen werden, wird verglichen mit der westlichen Welt, in der „Face-to-Face-Feinabstimmungen“ mit den primären Bindungspersonen die frühe Affektregulation kennzeichnen.

Ob diese Feinabstimmung die Grundlage für „epistemisches Vertrauen“ bildet (nach Fonagy) oder ob es zu Fehlregulationen kommt, hängt unter anderem von der Feinfühligkeit der primären Bindungsperson ab. Am Anfang des Lebens kann zwischen Psyche und Körper nicht unterschieden werden, das Baby ist Körper und reagiert über den Körper und drückt seine Affekte ganz körperlich aus. Erst über die Entwicklung von stabilen Repräsentanzen für Affekte, Körperwahrnehmungen, Selbst und Objekt entsteht ein „Körper-Selbst“, das in der weiteren Entwicklung als (gruppale) „Matrix“ (nach Foulkes) verstanden werden kann. Dieses Körper-Selbst entwickelt sich aus den frühen Bedürfnissen und körperlichen Empfindungen sowie seinen Interaktionen mit den primären Bezugspersonen.

Im zweiten Kapitel beschreibt Schultz-Venrath die Besonderheiten des Körpers und seine Beziehung zu Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, wobei gerade Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen zahlreiche Enttäuschungen mit Hausärzten, Fachärzten und Psychotherapeutinnen erleben, weil die Rolle des Körpers noch immer zu wenig in der zwischenleiblichen Beziehung verstanden ist. Ein Körper-Selbst-Rettungsversuch ist bei chronischen Verläufen mitunter „magisches Denken“, welches mit festen Überzeugungen über die Herkunft der Beschwerden einhergeht (z. B. „Handystrahlung“, „Elektrosmog“). Ein solches Denken ist nicht weit entfernt von sogenannten „Verschwörungstheorien“, die man eher als „Verschwörungsglauben“ bezeichnen sollte und mit dem prämentalistischen Modus des „Äquivalenzmodus“ einhergehen, in dem sich manche Patient*Innen mit Somatisierungsstörungen befinden: Das Getrennthalten von außen und innen ist noch nicht möglich.

Deshalb kommt es besonders in Anamnese, Erstgespräch oder Erstkontakt darauf an, mit diesen Patienten an der Aufmerksamkeitsregulation, an der Affektregulation und am expliziten Mentalisieren zu arbeiten, damit körperbezogene Zustände in eine Sprache emotionaler Zustände verwandelt werden können. So sollten der Körper und die darauf bezogenen Äußerungen schon in therapeutischen Erstgesprächen hellhörig machen und als Türöffner für den emotionalen Hintergrund der Patient*Innen gesehen werden – etwa wenn ein Körperschmerz den Verlust eines geliebten Menschen anzeigt oder ein chronisches Schwindelgefühl als Synonym für die Unfähigkeit, seine Meinung zu sagen, gemeinsam verstanden werden kann.

Im dritten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Entdeckung des Körpers in der frühen Psychosomatik und dem Fehlen „verkörperter Interaktionen“ in der Psychoanalyse trotz des berühmten Satzes von Freud „Das Ich ist vor allem ein körperliches […]“.  Im Unterschied zu den aktuellen Auffassungen der Psychotraumatologie werden traumatische Beziehungserfahrungen als körperliche, im prozeduralen Gedächtnis gespeicherte Phänomene beschrieben, die als transdiagnostische Affektregulationsstörungen eine theoretische Erweiterung des inflationär gebrauchten Trauma-Begriffs darstellen.

Dissoziationen sind nicht nur ein Selbstschutz-Versuch, sondern gehen auch mit einer Schwächung des Mentalisierens einher. MBT fördert deshalb die Anknüpfung an eine „Assoziation im Hier und Jetzt“. Das Körper-Selbst wird theoretisch verknüpft mit verkörperlichten Emotionen und als Vorläufer des Kernselbst dargestellt (Damasio 2000), denn es gibt kein Selbst ohne den Körper. So können Kinder zum Beispiel unter vier Jahren bereits „false belief Situationen“ mit den Augen erkennen, aber noch nicht verbalisieren.

Mit der Entwicklung von Repräsentanzen können Körperzustände mehr und mehr über Metaphern „symbolisch“ dargestellt werden, womit eine „De-Somatisierung“ beginnt: Es entstehen Gedanken und Imaginationen, der Körper wird mentalisiert (Stern 1992 [1985]). Traumata unter vier Jahren hinterlassen mitunter Somatisierungen und „verkapselte Sprachbilder“ (Leikert 2021), die sich im Körper-Selbst befinden und nicht bewusst erinnert werden können. Hierbei geht es in der Sprache der MBT um Affektregulationsstörungen, die entweder somatisiert oder dissoziiert werden.

Im vierten Kapitel wird noch einmal auf die Wichtigkeit des „epistemischen Vertrauens“ nach Fonagy & Allisson (2015) hingewiesen, das in so vielen Psychotherapien erst einmal hergestellt werden muss. Erst epistemisches Vertrauen befähigt ein Kind und später den Erwachsenen, andere Menschen als Quelle sozialer Information zu nutzen und die Organisation des Selbst als sinngebend zu erleben. So können Vergangenheit und Gegenwart auf kohärente Weise miteinander verbunden werden.

Säuglinge erleben entwicklungsfördernde Interventionen, die affektive Erinnerungsspuren hinterlassen. Diese können in Therapien einer Transformation zugänglich gemacht werden: z.B. können „Connect and repair – Erfahrungen“ gemacht werden, d.h. Patient*Innen lernen erst über die Rolle und Bedeutung des epistemischen Misstrauens über verlässliche Therapien, was epistemisches Vertrauen interaktionell und für das Körper-Selbst ermöglicht.

Ein Schlüsselkonzept, das neurowissenschaftliche und klinische Erkenntnisse miteinander verbindet, ist das des „verkörperlichten Mentalisierens“: es meint „die Fähigkeit, über die eigenen körperlichen Erfahrungen, Empfindungen sowie deren Beziehungen zu den intentionalen mentalen Zuständen in sich selbst als auch bei anderen reflektieren zu können“ (Spaans et al. 2009). Schultz-Venrath kritisiert diesen Begriff jedoch, weil nach der Definition, dass Mentalisieren erst ab dem vierten Lebensjahr möglich ist, der Weg vom Körper zum Mentalisieren sehr weit ist. Dies ist der eigentliche Grund, als vierten prämentalistischen Modus den Körper-Modus einzuführen.

Ebenso werden die Dimensionen des Mentalisierens in Bezug auf die Gegenübertragungsreaktionen von Therapeuten beschrieben, die sich in der Regel körperlich anfühlen. Mit der Beschreibung der Technik des „contrary move“, der Gegenbewegung, endet das Kapitel. Damit ist gemeint, mit dem jeweiligen Gegenpol im aktuellen Narrativ Mentalisieren auf ein-fache Weise zu fördern (innen-außen, implizit-explizit, kognitiv-affektiv, auf sich selbst und auf andere bezogen).

Im fünften Kapitel wird die theoretische Grundlage des Körper-Modus eingeführt, der erstmals in Band vier der von Schultz-Venrath herausgegebenen Reihe von Maria Teresa Diez Grieser und Roland Müller (2018) als Ergänzung der bisherigen prämentalistischen Modi (Teleologischer, Als-Ob- und Äquivalenz-Modus) der britischen Gruppe kreiert wurde. Mit ihm lassen sich Patienten mit körperlichen Störungen, wie z.B. Nägelkauen, skin picking, body building, etc. besser verstehen. Der Körper-Modus ist auch bei Persönlichkeitsstörungen ein prämentalistischer Versuch, sich selbst zu spüren, insbesondere wenn Objekte nicht vorhanden sind. Fallbeispiele illustrieren die Übergänge zwischen den einzelnen Modi und erklären die Brücke zum Körper, der in früheren Veröffentlichungen zur Mentalisierungstheorie noch nicht so herausgearbeitet wurde.

Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit der Anwendung der mentalisierungsbasierten Therapie, die ursprünglich für Patient*Innen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt wurde, heute aber unter anderem auch für Patient*innen mit Essstörungen, Depressionen und Somatisierungsstörungen relativ erfolgreich eingesetzt werden kann.

Dabei steht die anamnestische Frage: „Wie fühlen Sie sich“ vor allem bei den Somatisierungsstörungen im Vordergrund, da die Einsicht in psychodynamische Zusammenhänge bei dieser Patientengruppe meist fehlt. An verschiedenen Beispielen werden mentalisierungsfördernde Interventionen für Patient*Innen mit Somatisierungsstörungen dargestellt. Die therapeutische Haltung und die Merkmale der Interventionen werden in Hinblick auf Gruppen- und Einzeltherapien beschrieben.

Das Buch regt an, sich genauer mit dem Körper in Therapien zu beschäftigen und die Mentalisierungstheorie auf ihn zu beziehen. In bisherigen Körper- und Tanztherapien wurden mentalisierungsfördernde Interaktionen sicherlich auch schon angewendet, doch bisher nicht in der Sprache der Mentalisierungstheorie konzeptualisiert. Es fehlt in den meisten Theorien eine Überprüfung der Interventionen bezüglich der Förderung oder Hemmung des Mentalisierens. 

Das Buch gibt den Lesenden eine spannende Erweiterung im Diskurs um „Körper“, „Mentalisieren“ und „Psychotherapietheorie“. Es vermittelt einen facettenreichen Zugang zum Thema „Mentalisieren des Körpers“, d.h. die körperliche Erfahrung des Empfindens, des Spürens und Wahrnehmens von Affekten und Emotionen, die dann durch ihre Vernetzung mit Bildern, Phantasien und Erinnerungen zu seelischem Erleben wird (Volz-Boers 2007).

Das Buch könnte sich als Brückenschlag im Diskurs um den postödipalen, intellektualisierten „phantasmatischen Triebkörper“ der Psychoanalyse und dem Körper, der im Mentalisierungsmodell in den frühen Lebensjahren spezifischer Regulationserfahrungen ausgesetzt ist, erweisen.

Der Diskurs um die Bindungssituation in westlichen und anderen Kulturen ermöglicht den Denkraum für frühe Regulationserfahrungen (z.B. mit dem Vater oder anderen Bindungspersonen), die in der Fachdebatte zur frühen Entwicklungssituation meist zu wenig beachtet werden. Der „Körpermodus“ als Begrifflichkeit frühester Regulationserfahrungen wird als prämentalistischer Modus ebenfalls die Theorie um die psychosexuelle Identitätsbildung erweitern.

Darüber hinaus ist dieses Buch eine hervorragende Grundlage für die Schulung von interessierten Therapeuten in „live-Ausbildung“ mit Rollenspielen und in Supervision.

 


Literaturverzeichnis

Damasio, Antonio R. (2000): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: Econ Ullstein List.

Diez Grieser, Maria Teresa u. Müller, Roland (2018): Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Fonagy, Peter u. Allison, Elizabeth (2015): The Role of Mentalizing and Epistemic Trust in the Therapeutic Relationship. In: Psychotherapy 51 (3), S. 372–380.

Foulkes, S. H. (1975): Group-Analytic Psychotherapy. Method & Principles. London: Gordon and Breach. Later: reprint Karnac Books.

Leikert, Sebastian (2021): Encapsulated body engrams and somatic narration – Integrating body memory into psychoanalytic technique. In: International Journal of Psychoanalysis.

Schultz-Venrath, Ulrich (2021): Mentalisieren des Körpers. Stuttgart: Klett-Cotta-Verlag.

Spaans, J. A., Veselka, L., Luyten, P. u. Buhring, M. E. (2009): Bodily aspects of mentalization: a therapeutic focus in the treatment of patients with severe medically unexplained symptoms. In: Tijdschr. Psychiatr 51 (4), S. 239-248.

Stern, Daniel N. (1992 [1985]): The Interpersonal World of the Infant: A View from Psychoa-nalysis and Developmental Psychology. New York: Basic Books.

Volz-Boers, Ursula (2007): Psychoanalyse mit Leib und Seele: Körperliche Gegenübertragung als Zugang zu nicht symbolisierter Erfahrung und neuer Repräsentanzenbildung. In: Geißler, Peter u. Heisterkamp, Günter (Hg.): Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Ein Lehrbuch. Wien/New York: Springer, S. 39-58.

 

Autor:in: Britta Reiche, Dr. Dipl.-Psych., ist als Supervisorin und Gruppentherapeutin für psychodynamische und psychoanalytische Gruppentherapie in eigener psychotherapeutischer sowie psychoanalytischer Praxis tätig. Ferner ist sie Dozentin, Lehrtherapeutin und Supervisorin beim Zentrum Ausbildung Psychotherapie Nord, Dozentin, Selbsterfahrungsleiterin und Supervisorin am Hafen-Institut für Psychotherapie und Dozentin am Michael Balint Institut in Hamburg.