Ein Vergleich des ICD-11 mit dem klinischen Denken der strukturalen Psychoanalyse

Stefan Ohlrich

Y – Z Atop Denk 2023, 3(4), 2.

Originalarbeit

Abstract: Anlässlich der bevorstehenden Einführung der neuen, elften Version des ICD vergleicht der Autor das a-theoretische Manual mit dem struktural-psychoanalytisch ausgerichteten Diagnosemodell von Paul Verhaeghe. Anhand der Protagonistin des Films Marnie von Alfred Hitchcock verfolgt die Arbeit den Grundgedanken, dass eine theoriegeleitete Diagnostik, indem sie nach Zusammenhängen der Symptome sucht, weitere relevante Signifikanten erschließt und so ein tieferes Verständnis der subjektiven Struktur ermöglicht. In der Fallvorstellung am Schluss des Essays wird eine Probe dieser These geliefert.

Keywords: Diagnostik, ICD, klinisches Manual, Filmanalyse, strukturale Psychoanalyse

Veröffentlicht: 30.04.2023

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1. Einleitung

Deskriptive Diagnostikmanuale sind der Standard der modernen Psychopathologie, wohl auch aufgrund ihrer Haltung, die dem Paradigma der evidenz-basierten Medizin entspringt. Das neu erscheinende ICD-11 ist keine Ausnahme von der Regel. Aber ist eine wissenschaftlich fundierte Symptomsammlung mit klinischem Denken gleichzusetzen? Das ICD-11 bietet einen a-theoretischen, deskriptiven und phänomenologischen Ansatz zur Psychopathologie, ebenso wie das DSM-V. Der offensichtliche Vorteil soll in der universalen Anwendbarkeit liegen, die es für Praktizierende aller psychotherapeutischen Schulen nützlich macht und dadurch theoretische Differenzen überwindet.

Des Einen Freud, des Anderen Leid: Es gibt zahlreiche Kritiker dieser Manuale, die verschiedene Argumente ins Feld führen. Ich möchte hier nur einige wenige nennen. Fink (2017, S. 320) verweist auf einen Interessenskonflikt, wonach alle Panelmitglieder des DSM, nach deren Diagnosen Medikamente als erste Therapieform empfohlen werden, finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie hatten. Laut Clarkin et al. (2001, S. 86) taugt das DSM nicht zur Therapieplanung, da allein schon die Unterscheidung von zehn verschiedenen Persönlichkeitsstörungen in der älteren Version nicht haltbar sei. Weiterhin diskutiert Verhaeghe (2004) das Problem deskriptiver Diagnostik ausführlich, beispielsweise im Verweis auf eine Studie, welche die fehlende Validität der Messinstrumente aufzeigt (S. 28). Doch sein Hauptanliegen ist ein anderes: Es braucht eine Theorie, eine Metapsychologie, um Aspekte im klinischen Kontext sichtbar werden zu lassen (ebd., S. 125).

Meine daran anschließende These lautet, dass deskriptive Diagnostiksysteme bezüglich klinisch relevanter Phänomene blind sind, da sie lediglich auf offen liegende Symptome fokussieren und es darüber hinaus nicht gelingt, notwendige Verbindungen zwischen den relevanten Phänomenen herzustellen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Hysterie, einer Störung, die sich kontextfreier Diagnostik geradewegs widersetzt, zeigt, wie wichtig Theorie ist, um zu verstehen, was im Behandlungszimmer passiert (vgl. Israel 2020). Ein Beispiel eines solchen theoriegeleiteten Ansatzes ist das Freudo-Lacanianische Manual Paul Verhaeghes (2004), welches im Laufe dieses Essays eingeführt wird.

Ich möchte beide Herangehensweisen vergleichen, indem ich einen fiktionalen Charakter als Fallbeispiel heranziehe (Marnie aus dem gleichnamigen Film von Alfred Hitchcock (1964)). Sicherlich ist dieses Vorgehen unwissenschaftlich, aber wesentliche Unterschiede sollten dennoch deutlich werden. Im Versuch, eine Diagnose zu finden, zunächst nach ICD-11, anschließend theoriegeleitet, werde ich mich an den Phänomenen des Films orientieren. Am Schluss möchte ich eine Fallvorstellung liefern, die hoffentlich besser verständlich macht, was es mit Marnie auf sich hat und die über die – meiner Meinung nach ungenügende – Erklärung des Films hinausgeht.

 

2. Marnie in der Arztpraxis

Wir wollen uns einmal vorstellen, wie ein Arztbesuch mit Marnie als Patientin aussehen mag, indem wir jene Symptome heranziehen, wie sie im Film gezeigt werden. Ich bin mir bewusst, dass dieses Gedankenspiel höchst artifiziell ist, aber vielleicht können ja doch gewisse Überlegungen angestellt werden. Wesentlich zu berücksichtigen ist meiner Meinung nach, dass Marnie wohl nur über jene Symptome zu sprechen bereit wäre, welche ihr selbst Leid verursachen, also ich-dyston sind, da sie im gesamten Film eine ausgeprägte Abneigung zeigt, wenn es darum geht, sich zu öffnen. Dieses Leiden am Symptom wäre in dem Fall ihr Hauptinteresse überhaupt einen Arzt zu konsultieren.

Zunächst möchte ich auf ihren Drang eingehen, sich sämtliche rote Farbe (Flecken und dergleichen) von Händen und Sachen zu waschen. Dies könnte als Symptom einer Zwangsstörung (6B20) gesehen werden, speziell vom Typus der Kontamination. Im ICD-11 heißt es:

„Zwangsstörungen sind durch das Vorhandensein von anhaltenden Zwängen oder Zwangshandlungen oder in den meisten Fällen durch beides gekennzeichnet. Zwangsvorstellungen sind sich wiederholende und anhaltende Gedanken, Bilder oder Impulse/Erregungen, die aufdringlich und unerwünscht sind und in der Regel mit Ängsten einhergehen. Der Betroffene versucht, die Zwangsvorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie durch die Ausübung von Zwängen zu neutralisieren. Zwänge sind sich wiederholende Verhaltensweisen, einschließlich sich wiederholender geistiger Handlungen, die der Betroffene als Reaktion auf eine Obsession, nach starren Regeln oder zur Erlangung eines Gefühls der ‚Vollständigkeit‘ auszuführen gedenkt.“ 1

Einige Aspekte weisen Verbindungen zu Marnies Fall auf: Zwar sind ihre Zwangshandlungen nicht mit Genussgewinn verbunden; ihre Ausübung kann allerdings eine Neutralisierung von Angst und Unbehagen bezwecken und ein Gefühl der „Vollständigkeit“ mit sich bringen. Das kann sicherlich an Marnies Verhalten beobachtet werden, da die rote Farbe offensichtlich großes Unbehagen auslöst, das durch die Handlung des Waschens aufgehoben wird. Entscheidend sind die Art und Weise, wie die Handlungausgeführt wird und das subjektive Erleben von Stress, wenn die Handlung unterbleibt.

Dennoch scheint die Diagnose nicht zu passen, denn:

„[d]amit eine Zwangsstörung diagnostiziert werden kann, müssen die Zwangsvorstellungen und Zwänge zeitaufwendig sein (z.B. mehr als eine Stunde pro Tag in Anspruch nehmen) oder zu erheblichem Leidensdruck oder zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen.“2

Marnies Symptome sind nicht so lang andauernd und erhebliche Beeinträchtigungen können auch nicht attestiert werden. Darüber hinaus ist es uns nicht möglich, Aussagen über den Grad ihrer Einsicht zu treffen, was angesichts der Diagnose nach ICD-11 allerdings relevant wäre. Obwohl also einige der Beschreibungen auf Marnie zutreffen, ist die Schwere der Symptome wohl nicht ausreichend für eine reliable Diagnose der Zwangsstörung. Ein weiteres Beispiel dazu: Marnie erleidet zeitweilig Panikattacken (wie sie diesen emotionalen Zustand vielleicht selbst bezeichnen würde), aber diese stehen nicht im Zusammenhang mit Situationen, die zwanghaftes Verhalten auslösen. Dieses Symptom scheint also auch nicht zur Zwangsstörung zu passen.

Allerdings möchte ich auf einen eher latenten Aspekt hinweisen, der zwar in der deutschsprachigen ICD nicht explizit genannt wird, aber im „Gefühl der Vollständigkeit“ anklingt. In der internationalen Version des Manuals ist vom „urge to set things ‚just right’“3 die Rede, also einem Drang, alles in Ordnung zu bringen, sodass alles seine Richtigkeit hat. Es gibt zwar keinen direkten Zusammenhang zu Marnies zwanghaftem Verhalten, aber interessanterweise lässt die Formulierung an jene Worte denken, die Marnie ausspricht, nachdem sie ihrem geliebten Pferd den Gnadenschuss gegeben hat: „Jetzt ist es besser“, sagt sie. Das ICD liefert keine weiteren Einsichten dahingehend, da es an einer Theorie mangelt, die ein weiteres Verständnis bieten könnte. Ich werde in der späteren, psychoanalytischen Besprechung darauf zurückkommen.

Weitere Symptome, die von Marnie ihrem Arzt gegenüber genannt werden könnten, sind ihre Panikattacken während Gewitterstürmen und ihre Albträume. Sicherlich könnten diese Symptome zu eigenen Diagnosen führen, aber ich möchte sie zwecks Genauigkeit in Verbindung setzen zu jenem Vorfall, der sie im Alter von fünf Jahren ereilte und vielleicht als Trauma bezeichnet werden kann (mangels besseren Terminus zu diesem Zeitpunkt der Diskussion). Dieser Vorfall würde im klinischen Kontext wohl nur zur Sprache kommen, wenn er überhaupt bewusstseinsfähig wäre, was angesichts der Hinweise des Films nicht sehr wahrscheinlich ist, zumindest nicht vor dem Ende der Handlung. Lassen wir uns dennoch auf die Hypothese einer möglichen Verbindung der Symptome zum Trauma ein, so scheint es angebracht, die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) (6B40) zu prüfen. Ihre Panikattacken und Albträume könnten dazu passen:

„Wiedererleben des traumatischen Ereignisses oder der traumatischen Ereignisse in der Gegenwart in Form von lebhaften aufdringlichen Erinnerungen, Rückblenden oder Albträumen. Das Wiedererleben kann über eine oder mehrere Sinnesmodalitäten erfolgen und wird typischerweise von starken oder überwältigenden Emotionen, insbesondere Angst oder Entsetzen, und starken körperlichen Empfindungen begleitet.“4

Bedenken wir dazu die bereits erwähnte Szene, in der sie das Pferd tötet und jene Worte wiederholt, die nach dem traumatischen Vorfall von ihrer Mutter gesprochen wurden („Jetzt ist es besser“). Zunächst fällt auf, dass es sich dabei wohl um ein Wiedererleben handelt, zumindest ist es eine Re-Inszenierung des traumatischen Erlebnisses durch (oder für) Marnie, da sie ja eben jene Worte spricht, die beide Situationen miteinander verbindet. Wir finden hier allerdings keine Anzeichen von „Angst oder Entsetzen“, sondern eher eine Erleichterung, die an jene „Neutralisierung der Angst“ der Zwangsstörung denken lässt. Andererseits könnte man Marnies Zustand im Moment des Schusses auch als eine Dissoziation deuten und hätte damit ein wichtiges Symptom der PTBS, wenn es sich denn um diese Diagnose handelte.

Das ICD-11 erwähnt weiterhin die „Vermeidung von Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis bzw. die Ereignisse oder Vermeidung von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die an das Ereignis bzw. die Ereignisse erinnern“5. Das könnte sowohl auf ihre Aversion der roten Farbe bezogen werden als auch auf ihre Vermeidung intimer Beziehungen zu Männern, da beides an jene traumatische Situation erinnern würde. Allerdings ist dies im Verlauf der Handlung nicht konstant zu beobachten: In einer Szene beispielsweise wirft sich Marnie aus Angst vor einem Gewitter in die Arme Mark Rutlands, was zu einem Wiedererleben oder mindestens Erinnern führen müsste, jedoch Erleichterung und Beruhigung bringt. Weiterhin löst die Beschmutzung mit roter Farbe kein Wiedererleben aus, sondern wird durch rigides Waschen beseitigt. Schließlich finden wir bei Marnie keine „anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten aktuellen Bedrohung, die sich z.B. durch Hypervigilanz oder eine verstärkte Schreckreaktion auf Reize wie unerwartete Geräusche zeigt“ (ebd.), sodass eine Diagnose der PTBS nicht angemessen erscheint.

Zusammenfassend zeigt diese kursorische Anamnese, dass keine der einzelnen diagnostischen Kategorien des ICD-11 den Fall erschöpfend beschreibt. Sicherlich spielen auch dramaturgische Gründe eine Rolle in der Art, wie die Symptome im Film dargestellt werden. Es könnten allerdings mehrfache Diagnosen vergeben werden, welche bestimmte Symptome abdecken, zugleich aber andere vernachlässigen, z. B. Zwangshandlungen (MB26.5), spezifische Phobien (6B03) oder Kleptomanie (6C71), auch wenn letztere aufgrund der fehlenden Anspannung vor den Diebstählen nicht voll zutrifft, aber immerhin die Diebstähle selbst erfasst. Kurz gesagt: Es fehlt an einer Diagnose, welche die verschiedenen Aspekte verknüpft.

Am Ende des Films wird eine Erklärung für Marnies Eigenheiten geliefert: Das initiale Trauma wird verstanden als intensives Erleben von Schuld aufgrund der Tötung eines Mannes, das anschließend die verschiedenen Symptome verursacht. Damit ist die Erklärung recht nah an der deskriptiven Haltung des ICD auch wenn die Verwendung des Terms Trauma im Sinne des ICD genauer zu diskutieren wäre. Selbst wenn also multiple Diagnosen vergeben würden, wären diese doch untereinander unverbunden, sodass klinisch relevante Aspekte von Marnies Persönlichkeit unberücksichtigt blieben.

 

Exkurs: Ein Freudo-Lacanianischer Ansatz der Diagnostik

Die obige Diskussion hat sich zu zeigen bemüht, dass ein rein deskriptiver, a-theoretischer Ansatz zwar unabhängig des eigenen theoretischen Hintergrunds anwendbar sein mag, dieser aber potentiell ein kohärentes und erschöpfendes Verständnis des Falls verfehlt. Im Gegensatz dazu möchte ich nachfolgend auf das Manual Paul Verhaeghes (2004) zurückgreifen, welches ein entschieden klinisches Model Freudo-Lacanianischer Psychoanalyse darstellt. Die Theorie geht von der Grundannahme aus, dass Identität sich wesentlich in Beziehungen zu Anderen entwickelt. Verkürzt gesagt: Identität ist die Haltung gegenüber Anderen und das ist auch der Ort, an dem sich das Subjekt schließlich enthüllt. Symptome sind dahingehend lediglich ein Aspekt der subjektiven Struktur; wichtiger in entwicklungspsychologischer Hinsicht sind die vorherrschenden Abwehrmechanismen. Diesem Schema folgend sind ‚nur‘ drei klinische Positionen möglich, die Freuds Einteilung psychischer Störung folgen: Psychose (Verwerfung), Perversion (Verleugnung) und Neurose (Verdrängung).

Ich möchte kurz die Grundzüge dieser psychoanalytischen Perspektive herausarbeiten und folge dabei Verhaeghe (2004, S. 281 ff.). Während die jeweilige Störung durchaus mit dem Entwicklungsprozess verknüpft wird, ist doch wesentlich der Andere6 (z.B. Mutter oder Vater) von herausragender Bedeutung für das werdende Subjekt. Entscheidendes Moment der psychischen Organisation ist die Triangulierung. Jedwede Abweichung von einer erfolgreichen Triangulierung führt entweder in die Psychose, in der es nur das Subjekt und den Anderen gibt (eine Dyade), oder in die Perversion, in der ein Dritter zugleich erkannt und verleugnet wird. Genauer gesagt, führt die Triangulierung aus diesen Positionen heraus. Nur wenn ein Subjekt triadische Konstellationen akzeptieren kann, können Symbole gebildet werden und eine bedeutungs-volle bzw. bedeutungsgebende Existenz wird möglich, jenseits der Beschränkungen der Dyade. In ungebührlicher Kürze ausgedrückt, liegt die klinische Relevanz im Fehlen einer dritten Perspektive, sodass in Dyaden alles „real“ bleibt, bezogen entweder auf das Subjekt oder den Anderen (man denke an Wahnideen oder Halluzinationen). Erst ein Dritter ermöglicht das (symbolische) Denken der Dyade und der darin stattfindenden Interaktionen.

Zwar eng an Lacans klinischem Denken orientiert, macht Verhaeghe (2004, S. 181) Freuds Unterscheidung von Aktualpathologie und Psychopathologie als zusätzliches diagnostisches Kriterium fruchtbar. Diese Kategorie ermöglicht ein genaueres Verständnis der subjektiven Struktur, was ich nachfolgend entwicklungspsychologisch herleiten möchte. Der Säugling ist nach Verhaeghe inneren Triebspannungen ausgesetzt, die er selbst nicht verarbeiten kann, sondern dafür auf einen primären Anderen angewiesen ist (meist, aber nicht zwingend, die Mutter). Sie antwortet auf die noch bedeutungslose (daher überwältigende) sinnliche Erfahrung. Diese Triebspannungen verknüpft Verhaeghe (2004, S. 206 ff.) mit dem Lacan’schen „Realen“ – dies ist pures Erleben, nicht-symbolisiert, namenlos, unkontrollierbar und daher Angst auslösend. Indem die Mutter auf die Äußerungen des Kindes antwortet, versieht sie die Triebspannungen mit Signifikanten und es ist allein das Antworten, welches die Konstituierung von Bedeutung ermöglicht; das „Reale“ erhält symbolische Bedeutung, sodass nachfolgend mit ihm umgegangen werden kann. Dieser Prozess entspricht der Lacan’schen alienation: Das Einsetzen von Worten (von Anderen kommend) für individuelle Triebspannungen, deren individuelles Erleben damit verloren geht. Das Kind nimmt die Signifikanten auf, projiziert sie zurück ins Außen, von wo sie dann, beispielsweise von der Mutter, wiederum zurückgegeben und mit anderen Signifikanten verknüpft werden. Die wiederholten Fragen eines Kindes im „Warum-Spiel“ erzeugen ebenjene Verknüpfungen. In diesem zirkulären Prozess werden die Signifikanten (als Antwort auf Triebspannungen) Teil der Identität des Kindes, sodass in einem streng struktural-psychoanalytischen Sinn Identität als Signifikantenkette verstanden werden kann. Im nächsten Entwicklungsschritt, der Separation, wird ein eigenes Begehren entdeckt, wodurch das Kind nicht mehr nur Objekt des mütterlichen Begehrens ist bzw. dieses als eigenes übernimmt.

Ich möchte als weiteren Aspekt der strukturalen Theorie anfügen, dass die sprachlichen und nicht-sprachlichen Signifikanten der Mutter nicht ausschließlich Antworten auf die Triebspannungen sind, sondern in ihnen etwas enthalten ist, was das Kind nicht verstehen kann. Diese Signifikanten sind, wie es Laplanche (2004) ausdrückt, kontaminiert mit unbewussten, sexuellen Inhalten und daher „rätselhafte Botschaften“. Darin liegt nach Laplanche der Ursprung des sexuellen Triebs selbst begründet, wobei er das Sexuelle nicht auf genitale Betätigungen reduziert. Der rätselhafte Rest der Botschaften, der sich dem Verständnis, genauer gesagt der Übersetzung (Laplanche) oder Prozessierung (Verhaeghe), des Kindes entzieht, wird verdrängt und bildet einen Teil des Unbewussten, strebt von dort aber weiterhin nach Übersetzung und erzeugt so wiederum Spannungen. Wir werden später sehen, wie sich dies in Marnies Fall zeigt.

Alle zukünftigen Triebspannungen, Sinnesreize und Erlebnisse werden durch die Signifikantenkette verarbeitet. Für die eingeführte Unterscheidung von Aktual- und Psychopathologie wird dies bedeutsam: Triebspannungen, die niemals von einem Signifikanten „überschrieben“ wurden, verbleiben unverarbeitet auf der körperlichen Ebene von der sie stammen, da sie keine symbolische Bedeutung erfahren haben oder, anders ausgedrückt, wurden sie nie in ein Bedeutungsnetz verwoben. Sie bilden in Laplanches Worten das „eingeklemmte Unbewusste“ (2004, S. 906). Dies ist die aktualpathologische Position des Subjekts und ein Beispiel dafür wäre selbstverletzendes Verhalten von Personen, die keine Möglichkeit haben, symbolisch mit Spannungen umzugehen und diese daher auf jener Ebene abführen von der sie stammen: der körperlichen.7 Wie Verhaeghe (2004, S. 181) es ausdrückt: Diese Symptome machen einen Eindruck auf Andere, werden aber nicht durch den Anderen verarbeitet (genauer: durch die gegebenen Signifikanten), wie es in der Psychopathologie der Fall ist: Symptome entstehen in diesem zweiten Fall, wenn die Verarbeitung selbst gestört ist, mit dem Trieb nicht angemessen umgegangen werden kann und daher eine Kompromisslösung notwendig wird, was nichts anderes bedeutet, als dass andere Signifikanten zur Verarbeitung herangezogen werden. Ich hatte beispielsweise eine Analysandin, die ihre Aggression in Form eines Zählzwangs kontrollierte. Unbewusst ist diese Handlung dann, wenn die Triebspannung keinen eigenen Signifikanten erhält. So war es der Analysandin nicht bewusst, warum sie in manchen Momenten von 100 in siebener Schritten rückwärts zählte. Sie tat es einfach.

 

3. Marnie im Behandlungszimmer

Um eine treffende Diagnose vergeben zu können, ist es nicht ausreichend nach unprozessierten Symptomen zu suchen. Zunächst ist es notwendig, die subjektive Struktur zu bestimmen innerhalb derer Symptome und Verhalten Bedeutung haben. Die erste Unterscheidung betrifft daher die klinischen Strukturen selbst. Im psychotischen Modus fänden wir Marnie in einem wahnhaften Zustand, was in strukturalen Begriffen die Nicht-Existenz eines Dritten meint (Verhaeghe 2004, S. 427 ff.). Ein Beispiel dafür wäre Hitchcocks berühmter Thriller Psycho, in dem die Triade aus Norman Bates, dessen Mutter (die den Mord quasi befiehlt) und Marion (in der Duschszene) dadurch aufgehoben wird, indem Bates die Identität seiner verstorbenen Mutter annimmt, beide eins werden (oder eher bleiben). Im Falle von Marnie hingegen können viele Triaden gefunden werden, die von jeweils anderen Affekten bestimmt sind, so etwa Marnie mit

• Ihrer Mutter und dem Ziehkind der Mutter (Neid)

• Mark Rutland und Lil (Eifersucht)

• Rutland und den Opfern der Diebstähle (Verbitterung unter Rutlands Kontrolle zu stehen)

• Ihrer Mutter und den Opfern der Diebstähle (Schuld bzw. Angst, wird in der Fallvorstellung ausführlicher diskutiert)

Es fällt auf, dass Marnies Symptome (jene rein deskriptiv verstandenen im Sinne des DSM bzw. ICD) beinahe ausschließlich in Dyaden oder in unvermittelten Beziehungen zu externen Stimuli zu finden und von aktualpathologischer Art sind. Betrachten wir beispielsweise ihren trance-artigen Zustand beim Erschießen des Pferdes am Ende (da sind nur sie und das Pferd), ihre überwältigende Angst bei Gewittern (welche erst durch Rutlands Eingreifen beruhigt wird) oder ihre Abneigung gegen die rote Farbe. Der Zwang, sämtliche rote Flecken sofort weg zu waschen ist, nebenbei angemerkt, kein symbolisches Ritual; die Triebspannung hat keine symbolische Transformation erfahren. Genau wie das Pferd muss es einfach „beseitigt“ oder „entfernt“ werden. Dies ist für das Verständnis der subjektiven Struktur von eminenter Wichtigkeit und wird später ausführlich diskutiert. Diese Symptome nenne ich „ungesättigte Signifikanten“ und sie sind keine eigenen Diagnosen. Ihre Bedeutung muss weiter exploriert werden und verweist auf eine verdrängte Situation, wie ich es in der Fallvorstellung zeigen möchte. Für den Moment kann man wohl davon ausgehen, dass Marnie eine Neurotikerin ist. (Ihre wiederholten Diebstähle könnten ebenfalls an eine Perversion denken lassen, dessen wesentliches Thema die Verleugnung eines gesetzgebenden Dritten ist, doch ist es nicht das Brechen des Gesetzes selbst, welches ihr Genuss verschafft, sondern der Erwerb und das Geben teurer Geschenke an die Mutter.)

Im nächsten Schritt gilt es die neurotische Richtung zu bestimmen, der Marnie am ehesten entspricht. Obwohl Freud ursprünglich zwischen Hysterie, Zwang und Phobie unterscheidet, verortet Verhaeghe (2004, S. 262 ff.) die Phobie in der Kategorie von Aktual- bzw. Psychopathologie, da es ihm wesentlich um die Position geht, die das Subjekt Anderen gegenüber einnimmt. Einen der zentralen Unterschiede sieht Verhaeghe (2004, S. 350 ff.) im Konflikt der Separation: In der Hysterie positioniert sich das Subjekt als Ursache des Begehrens des Anderen (und damit Separation offenbar vermeidend), während das Subjekt im Zwang einen eigenen Mangel ignoriert, der vom Anderen behoben werden könnte, was den Anderen de facto ausschließt, wodurch Separation erreicht werden soll – selbst wenn dies mit Angst vermischt sein kann, wie etwa in Ritualen, die aggressive Phantasien abwehren.

An diesem Punkt nun nehmen wir eine Perspektive ein, die weitere Symptome sichtbar werden lässt: Wenn wir die Triaden in Erinnerung rufen und die Art wie Marnie sich in diesen verhält, so wird deutlich, dass sie sehr bemüht ist, Andere auf Distanz zu halten. Ihr Begehren nach Männern beispielsweise in sowohl Sicherheit gebender als auch sexueller Hinsicht kann nur hervortreten in massiv beängstigenden Situationen (man denke an den Sturm vor Rutlands Büro) oder in der Gestalt von Pferden (eine Verschiebung als Wiederkehr des Verdrängten, was in der Pferdeschuss-Szene mit der rätselhaften Botschaft des „Jetzt ist es besser“ deutlich wird). Ja, selbst die Geschenke, die sie der Mutter macht und die vom gestohlenen Geld bezahlt wurden, passen sich in den zwangsneurotischen Modus ein:

Diese Geschenke sind „phallisch“, was hier meint, dass sie vom Anderen als wertvoll angesehen werden, zugleich aber eine Nähe des Subjekts selbst verhindern. Das Subjekt weigert sich, sich dem Anderen zu geben: „Der Andere wird niemals vervollständigt [durch das Subjekt], denn dies würde das Verschwinden des Subjekts selbst nach sich ziehen, was um jeden Preis verhindert werden muss“8 (Verhaeghe 2004, S. 387). Man beachte, wie unmittelbar nachdem Marnie ihrer Mutter das Geschenk des teuren Schals gemacht hat, ihr Neid durch das dann auftretende Ziehkind (einem Dritten) geweckt und ein Grollen der Mutter gegenüber artikuliert wird in den Anschuldigungen, dass diese sie „nie wirklich geliebt“ habe. Zuneigung wird durch ein phallisches Objekt wohl nur vorgetäuscht, denn selbst diese Nähe wird durch die Anwesenheit eines Dritten wieder aufgehoben. Die Nähe zeigt sich dann in der gekränkten Wut. Dieser Konflikt wird vom ICD nicht bemerkt (selbst wenn die wiederholten Diebstähle als Kleptomanie diagnostisch erfasst würden), ist aber von hoher strukturaler Relevanz, da hier eine spezifische interpersonale Dynamik ihren Ausgang nimmt. Es ist wichtig, die Geschenke und die Diebstähle nicht für bare Münze zu nehmen, sondern andere Funktionen anzunehmen (beispielsweise als Abwehr in Form einer Reaktionsbildung). Ich meine, dass diese Handlungen von psychopathologischer Art sind, das heißt, dass ihnen ein symbolisch transformierter Trieb zugrunde liegt. Auch die Bedeutung dieser Signifikanten wird in der Fallvorstellung besprochen.

Wie oben bereits angemerkt, sind Marnies vom ICD erfassten Symptome aktualpathologischer Art, also unprozessiert. Gleichzeitig bezeichnete ich sie als „ungesättigte Signifikanten“, die auf eine verdrängte Situation verweisen. Wie kann das sein? Es ist unerlässlich herauszustellen, was genau pathologisch ist. In der Diskussion des klinischen Phänomens des Traumas, schließt Verhaeghe (2004, S. 317), dass die Triebspannung selbst prozessiert werden muss, da sonst eine Posttraumatische Belastungsstörung drohe. Doch dies trifft nicht auf die vom ICD erfassten Symptome zu; diese sind zwar nicht prozessierte, aktualpathologische Signifikanten, aber nicht eine traumatische Erfahrung selbst. Mit Verhaeghe behaupte ich, dass es bei Marnie eine verdrängte (symbolisch prozessierte) Triebspannung gibt, während die ungesättigten Signifikanten auf die spezifische Situation verweisen, in der jene Triebspannung ihren Ausgang nahm. Der Trieb selbst, nicht aber die Verweisungen wurden prozessiert, weshalb die aktualpathologische Symptomatik, verweisungsbedingt, situationsbezogen bleibt. Aus diesem Grund bezeichne ich sie als ungesättigte Signifikanten. Der Trieb selbst findet demnach eigene Ausdrucksweisen. Im Gegensatz dazu ist das Trauma bei einer PTBS omnipräsent und führt daher zu den Beschreibungen, wie sie im ICD zu finden sind, also ständige Anspannung, konstantes Gefühl von Bedrohung etc. Ein Trauma hat keine Verbindung zur Kette der Signifikanten und bleibt daher real.

Demnach leidet Marnie nicht etwa an den Konsequenzen eines einzelnen traumatischen Erlebnisses wie es der Film am Ende behauptet. Ich meine, wir haben es mit einer prozessierten, aber ungelösten Triebspannung zu tun, die nicht einmal ausschließlich auf die verdrängte Situation beschränkt ist. Es ist eine Folge wiederholter, rätselhafter Botschaften der Mutter, die – während Marnies Kindheit – als Prostituierte regelmäßig männliche Kunden empfing, während Marnies Chance auf ein eigenes libidinöses Objekt von der Mutter zunichte gemacht wurde. In Lacan’schen Worten ließe sich vielleicht sagen, dass Marnies Begehren nicht vom Begehren der Mutter separiert wurde, allerdings nach dieser Lösung strebt und so zur Symptombildung führt. Die Verbindungen der Triebspannung zu anderen Signifikanten (beispielsweise Pferd, Geld und Geschenke) ermöglicht den Einsatz reiferer Abwehrmechanismen und verhindert eine PTBS. Diese Verbindungen tauchen in der psychoanalytischen Perspektive als zusätzliche Symptome auf. Marnies zwangsneurotische Position ist ein unbewusster Versuch, ein psychisches Gleichgewicht zu schützen, indem sie Objekte, die ihr sexuelles Begehren, Aggression oder Spannung auslösen könnten, auf sichere Distanz hält. Die Pathologie besteht im Teufelskreis, der zwar zeitweilig Abwehr mittels Symptomatik erlaubt, aber einen Genuss der eigentlichen Triebspannung verhindert, die – wohlgemerkt – im Film selbst nie zur Sprache kommt. Meiner Lesart nach, verbirgt die verdrängte Situation mehr als die Schuld am Totschlag eines Mannes. Mit dieser rätselhaften Andeutung verweise ich wiederum auf die Fallvorstellung am Schluss dieses Textes.

Bevor ich die Diskussion der Anamnese abschließe, möchte ich kurz einen weiteren Punkt herausstellen, in dem der psychoanalytische Ansatz einen Vorteil gegenüber der deskriptiven ICD offenbart. Im psychoanalytischen Kontext läge ein Hauptaugenmerk der Interviewenden auf der Entfaltung der Übertragung-Gegenübertragungsdynamik. Wenn es sich beispielsweise um einen männlichen Interviewer handelte, so könnte eine bestimmte Gesprächsatmosphäre spürbar werden, die von latenter Ablehnung bei äußerlicher Manipulation, möglicherweise gar Verführung geprägt ist. Im Vorstellungsgespräch mit einem Firmenchef, den Marnie zu bestehlen plant, kann diese Haltung erahnt werden. Im Gegensatz dazu könnte bei einer weiblichen Interviewerin ein Gefühl unmittelbarer Freundschaft und Verbundenheit vermischt sein mit dem Eindruck, kontrolliert zu werden und sich mit ihr verbünden zu müssen. Man denke hier an die Situation mit der Mutter, der ein teures Geschenk gemacht wird. Sollte es zu einer Übertragung mütterlicher Aspekte kommen, so ließe sich dies als Ausdruck latenter Aggression und Feindseligkeit verstehen. Das gemeinsame Bündnis, so ließe sich tiefer deuten, wende sich gegen Männer und diente als Abwehr eben jener gegen die Mutter gerichteten aggressiven Impulse. Diese Aspekte verweisen auf die Möglichkeit eines tieferen Verständnisses von Marnies Struktur als es eine Beschreibung ihrer Symptome zuließe.

 

4. Fazit

Sicherlich wäre eine komplexe Fallanalyse kaum möglich, wenn der Film nicht bis zu den genetischen Ursprüngen zurückführte. Dennoch wurden verschiedene Signifikanten deutlich, die eine andere Interpretation ermöglichen als jene, die der Film schließlich liefert. Weiterhin bin ich mir natürlich bewusst, dass mehr Phänomene in der Betrachtung entsprechend des psychoanalytischen Manuals besprochen wurden, aber ist dies nicht letztlich auch die Idee eines alternativen diagnostischen Ansatzes?

Ich hoffe, es ist im Laufe der Diskussion deutlich geworden, dass eine psychoanalytische (ebenso wahrscheinlich wie eine kognitiv-behaviorale) Perspektive zusätzliche Einsichten liefert als eine strikt a-theoretische Symptombeschreibung. So gesehen verwundert es nicht, dass ein umfangreicheres Bild sichtbar wurde, was sich vorzüglich in der kurzen Darstellung der Übertragungssituation zeigte. Obwohl verschiedene Schulen klinisch fruchtbar gemacht werden können, seien es nun Kohut’sche Selbstpsychologie, Post-Bionische Feldtheorie etc., so möchte ich dennoch auf die Stärke des Freudo-Lacan’schen Denkens hinweisen, die meiner Meinung nach auf zwei Fundamenten ruht:

1. Der Fokus auf Freuds erstem topographischen Modell bevorzugt die Betonung der Mechanismen und Bildungen des Unbewussten vor theoretischen Engführungen und beugt so theoretischem Fundamentalismus vor, der am Ende nichts anderes wäre als Ideologie (vgl. Mertens 2018, zitiert nach Neubaur 2019). Der frühe Freud, so ließe sich verkürzt sagen, steht den Phänomenen bedeutungsoffener gegenüber als beispielsweise die Kohut’sche Selbstpsychologie (vgl. Reed 1989). Dies wird daran deutlich, dass die vorliegende Analyse Ansatzpunkte auch anderer Schulen deutlich macht; so lässt sich Marnie beispielsweise als eindrückliches Beispiel der Balint’schen Grundstörung (Balint 1973) lesen, dessen Konzept wiederum klinisch-anwendungsorientiert ausgerichtet ist und so einen weiteren Vorteil einer metapsychologischen Lesart offenbart: Eine treffende Diagnose und ein ausreichend gutes Verständnis des Falles sind die Basis eines erfolgreichen Behandlungsplans.

2. Entsprechend dieser Argumentation möchte ich die Besonderheit des struktural-psychoanalytischen Ansatzes betonen. Lucien Israels (2020) warmherziges Buch ist ein Zeugnis der Geschichte der Hysterie als tragischem Missverständnis, das durch strukturales Denken über interpersonale Beziehungen besser verstanden werden konnte. Ich habe mich bemüht, diesen Aspekt hervorzuheben, indem ich die vielen Triaden einführte, in denen Marnie engagiert ist, ebenso wie die kurze Diskussion zum möglichen Übertragungsgeschehen.

Abschließend möchte ich einige sehr deutliche Worte der Kritik äußern, die zwar nicht neu, aber im Rahmen dieser Besprechung wieder drängend geworden sind. Selbstverständlich ist ein gründlicher, theoriegeleiteter Diagnoseprozess sehr viel zeitaufwändiger und ausbildungsintensiver als eine deskriptive Symptomsammlung, die aus genannten Gründen besser in ein Gesundheitssystem passt, das von einem Politiker regiert wird, dessen Berufsbezeichnung „Gesundheitsökonom“ lautet und dessen Vorgänger sich um eine „Rastertherapie“ bemüht hat, die die Anzahl verordneter Therapiestunden allein von der vergebenen Diagnose, unabhängig anderer Patientenvariablen, limitiert hätte. Am Ende des Tages, so ließe sich in dieser Linie argumentieren, könnten alle hier explorierten Symptome auch im Rahmen einer ordentlichen Therapie zur Sprache kommen. Man kann nur hoffen, dass dem so wäre, aber wie wahrscheinlich ist das, wenn mehr als 7000 Kassensitze fehlen (vgl. Rudolph 2022) und die Wartezeiten auf Therapieplätze viele Monate betragen? Gehen wir noch einen Schritt weiter: Eine rein deskriptive Diagnose (nach DSM oder ICD) könnte den Einsatz einer rein medikamentösen Therapie vorsehen, wodurch überhaupt keine Psychotherapie verordnet würde, was – in Marnies Fall beispielsweise – den subjektiven Kern verfehlte. Immerhin, so ein häufig zu vernehmendes Argument, sind Medikamente zeit- und kostengünstiger, vor allem im Vergleich zu einer Psychoanalyse. So scheint es zumindest. Eine ausführlichere Diskussion des Mythos des „Medikament spart Zeit und Geld“ lässt sich bei Fink (2017, S. 226) nachlesen.

 

Fallvorstellung

Anhand der vorliegenden Analyse und Diagnose (Zwangsneurose aufgrund ungelöster Triebspannungen mit aktualpathologischer Angstsymptomatik) möchte ich nun meine Deutung des Falles vorstellen, beginnend mit den klinischen Symptomen und abschließend mit einer Rekonstruktion der verdrängten Situation.

Vor ihrer Dekompensation funktioniert Marnie innerhalb ihrer subjektiven Struktur, wobei die Verbrechen die nötige und gewünschte Distanz sowohl zu ihrer Mutter als auch zu Männern sicherstellen. Marnie hat die Kontrolle.

„Rutland: Was ist mit dir passiert?

Marnie: Passiert? Nichts. Nichts ist mir passiert. Ich wollte nur, dass mich niemand anfasst!“9

Mit der Unterordnung in Form der Zwangsheirat mit Rutland bricht ihre Abwehr sukzessive zusammen, da ihr zwangsneurotisches Streben nach Separation und Unabhängigkeit unmöglich wird. Sie versucht ihn auf Distanz zu halten, wehrt Intimität ab, genießt aber zur gleichen Zeit Lils Eifersucht, die ihrerseits ein romantisches Interesse an Rutland hat. Diese Triade bringt damit Marnies inneren Konflikt zum Ausdruck, der romantische Gefühle nicht zulassen kann, sondern lediglich genießen lässt, dass diese Befriedigung Anderen verwehrt ist. Eine Konstellation, die auf die verdrängte Situation verweist, was ich in Kürze erörtern werde. Rutland selbst wird von Marnie wohlmöglich als verfolgendes Objekt erlebt, dessen offensichtliches Begehren und unerschütterliches Interesse an ihr bis zum Schluss rätselhaft bleibt.

„Marnie (zu Rutland): Ich bin krank? Nun, sieh’ dich doch mal selbst an, mein Lieber. Du bist so heiß darauf, Psychiatrie zu spielen, also was ist mit dir? Redest von Traumwelten! Du hast eine pathologische Fixierung auf eine Frau, die nicht nur zugibt, kriminell zu sein, sondern die schreit, wenn du ihr zu nahe kommst. Also, was ist mit deinen Träumen, lieber Schatz?“

Er konfrontiert sie nicht nur mit ihren Albträumen, sondern nimmt ihr Begehren auf, indem er sich für Pferderennen interessiert. Die „ausgewählte Tatsache“ (Bion), die eine Deutung von Marnies Struktur ermöglicht, wird offenbar, als ihr Lieblingspferd einen tödlichen Unfall hat und sie einen unwiderstehlichen Drang verspürt, es zu erschießen, wobei sie mit den Worten „Jetzt ist es besser“ wiederum einen ungesättigten Signifikanten liefert. (Beachtenswert ist die Formulierung des ICD zur Zwangsstörung, wonach ein Drang besteht, „alles in Ordnung“ zu bringen.)

Erst dann werden die verdrängten Ereignisse bewusstseinsfähig. Im Alter von fünf Jahren, lebte Marnie mit ihrer Mutter allein, nachdem der Vater die Familie wohl verlassen hat. Die Mutter verdiente Geld, indem sie sich prostituierte. Marnies Bett stand neben der Tür des Zimmers, welches die Mutter für ihre Arbeit nutzte. Eines Nachts, während eines heftigen Gewitters, empfängt die Mutter einen Matrosen. Marnie weint und der Matrose wendet sich ihr zu, scheint sie beruhigen zu wollen, wird aber von der Mutter gehindert. Diese Einmischung seitens der Mutter ist meines Erachtens nach die dynamisch wirkmächtigste rätselhafte Botschaft an die junge Marnie, deren Übersetzungsversuch die gesamte spätere Beziehung zur Mutter prägt. Es kommt anschließend zum Kampf in dessen Folge das Kind sich gezwungen sieht, den Matrosen mit einem Kamineisen zu erschlagen, um die Mutter zu retten. Nun werden jene denkwürdigen Worte gesprochen als die Mutter sagt: „Jetzt ist es besser“. Wörtlich genommen, ist diese Aussage wahrlich rätselhaft: Wie kann der Tod eines Menschen „besser“ sein? Besser als was? Besser als Steigerung von gut? Wie dem auch sei, Marnie wird eine Übersetzung finden. Nachdem diese Erinnerungen wiedergewonnen wurden, erklärt Rutland ihre Symptome als Ausdruck verdrängter Schuld und das Stehlen von Geld als Kompensation eines Mangels an Liebe.

Zweifelsohne sind die Signifikanten der roten Farbe (das Blut des Erschlagenen) und die Furcht vor Gewittern Erinnerungen an jene Situation und damit Signalangst auslösend. Doch ihre Vermeidung von Intimität, ihr Groll auf die Mutter, ihr beständiges Rivalisieren und die die Äußerung „Jetzt ist es besser“ widerstehen der Bedeutungsgebung durch die Interpretation verdrängter Schuld. Selbst wenn man zugesteht, dass es für ein Kind ein erschütternder Schrecken sein muss, solch eine Tat zu begehen und das Sicherheitsgefühl als dermaßen zerstört zu erleben, so erfolgte diese Tat dennoch aus Notwehr. Sie war nicht nur protektiv, sondern kann ebenso als couragiert und Ausdruck von Selbstwirksamkeit gelesen werden, da Marnie es ja selbst war, die die Situation klärte. Sie erlangte Kontrolle („Jetzt ist es besser“ übersetzt zu „gut gemacht“!). Allerdings erklärt die verdrängte Schuld nicht ihre verschiedenen Symptome. Angst als Erklärung bietet sich eher an, doch Angst wovor?

Die metapsychologische Perspektive macht deutlich, dass die junge Marnie konstant mit rätselhaften, sexuell aufgeladenen Botschaften ihrer Mutter und deren Kunden konfrontiert war, während Marnie selbst über kein libidinöses Objekt verfügt, da der Vater abwesend ist. Die Dyade zwischen ihr und ihrer Mutter wird erst durch den Matrosen geöffnet, der sich dem Kind zuwendet, nicht der Mutter, was eine ödipale Triangulierung in Gang setzt. Doch die Einmischung ihrer Mutter verunmöglicht den erfolgreichen Ausgang des Prozesses, wobei anzunehmen ist, dass Marnies Wunsch nach Kontakt zu solch einem Anderen enorm stark gewesen sein muss, wenn man die permanente Stimulation und darüber hinaus die Identifikation mit der Mutter (in Form des Über-Ichs in Freuds Terminologie) in Betracht zieht. Kurz gesagt, Marnie wollte, was die Mutter hat, doch wurde es ihr versagt.

Ich vermute, dass Marnie in jener tragischen Situation den Wunsch verspürte, sich der Mutter statt des Matrosen zu entledigen und dass dieser Todeswunsch jene Triebspannung repräsentiert, die nicht ausreichend prozessiert wurde. Wenn man das Bild sozusagen auf den Kopf stellt, werden die Symptome innerhalb dieser komplexen, interpersonell konfliktschweren Situation bedeutungstragend.

(1) Die Geschenke richten sich nicht nur an die Mutter, sondern dienen auch dazu, das Über-Ich zu besänftigen, welches durch die Aggressionen gegen die Mutter (und damit gegen einen Teil ihres Selbst) irritiert ist. Die Geschenke wehren Schuld oder Angst aus aggressiven Impulsen ab. Auffällig ist die Art, wie sich Marnie zu Beginn schützend auf das Bein der Mutter wirft, welches im Kampf mit dem Matrosen dauerhaft verletzt wurde. Dies könnte als weiteres Beispiel einer Reaktionsbildung gedeutet werden.

(2) Ihre Abneigung gegen intime Beziehungen zu Männern, bewahrt Marnie davor, jenes Begehren wieder zu erleben, welches ihre unprozessierten, aggressiven Impulse der Mutter gegenüber auslöste. Stattdessen verschiebt Marnie die Aggression und richtet sie gegen Männer, womit sie der „absurden Triangulierung“ (Lutz Götzmann, persönliche Mitteilung) eine weitere Wendung verleiht. Szenisch gelesen wirkt Marnie wie eine Regisseurin, die die infantile Konstellation (Mutter profitiert vom Geld anderer Männer) immer wieder aufführt. Doch ist es nun sie selbst, die volle Kontrolle über die Situation hat, wie das Geld beschafft und wofür es verwendet wird. Auf dieser Ebene ist die Prozessierung der Triebspannung stehen geblieben und es wird deutlich, inwiefern die Zwangssymptomatik sich nicht nur gegen Andere richtet, sondern auch gegen eigene Triebspannungen.

(3) Ihr infantil-sexuelles Begehren wurde auf Pferde verschoben. Diese Verbindung wird einsichtig als sie mit jenen Worten das geliebte Pferd erschießt, die nach dem Totschlag des Matrosen gesprochen wurden, der damit als libidinös besetztes Objekt aufscheint. Natürlich greift der Film damit ein Klischee auf, wonach Mädchen ein spezielles Interesse an Pferden haben, da diese unbewusst als Vorläufer bzw. Symbole männlicher Kraft und Potenz angesehen werden. Das Klischee ist hier nicht so interessant, wie der Aspekt, dass es sich eben um einen Vorläufer und damit um eher unreife Objektwahl handelt.

(4) Marnies Klage gegen die Mutter, dass diese sie nie geliebt habe, offenbart sich nun als Klage, keine Möglichkeit gehabt zu haben, von jemand Anderem geliebt zu werden bzw. jemand Anderen zu lieben. Die Tragik des Erlebnisses liegt nun eben auch darin begründet, selbst keine (wie auch immer infantile) Sexualität erleben zu können, während die Mutter ihr dies permanent vorlebt. Ein Phantasie Marnies könnte etwa lauten: „Wenn meine Mutter mich wirklich lieben würde, so würde sie mir den gleichen Genuss zugestehen, den sie selbst hat“.

(5) Eng mit dem letzten Punkt verbunden, findet sich der Ursprung von Neid und Eifersucht, die beide auf die Situation zurück verweisen, die Marnie vom Erleben und Genießen eines Dritten ausschließt. Andererseits genießt Marnie die Rollenumkehr, was am Beispiel der Triade Marnie – Rutland – Lil deutlich wird.

(6) Das wiederholte Stehlen von Geld ließe sich nun als Lösungsversuch der infantilen Situation lesen, in der die Mutter aufgrund der Armut zur Prostitution gezwungen war. Mit den erbeuteten Summen kann das verhindert werden und die problematische Situation mit allen ihren konflikthaften Elementen bleibt verdrängt.

Nichtsdestotrotz belegt Marnies Struktur, dass eine Triangulierung stattgefunden hat, sei sie auch noch so „absurd“. Ein Dritter tauchte auf, musste jedoch im Namen-der-Mutter beseitigt werden. Jene, aus dieser triadischen Konstellation resultierenden, Affekte sind zweiseitig problematisch, da sie einerseits zu Aggression auf die Mutter führen, während andererseits das Begehren an Männern als fundamentale Bedrohung der Mutter-Kind-Dyade erlebt wird. Die fehlende Prozessierung all dieser Triebspannungen durch den Anderen, durch die Mutter in diesem Fall, bildet den dynamischen Kern von Marnies Struktur.

Ihre Kur besteht damit nicht nur im Wiedererinnern jener verdrängten Erinnerungen im Beisein eines libidinösen Objekts (Rutland) und ihrer Mutter, sondern im (Wieder-)Finden eines verlorenen Objekts: Mit Rutland hat Marnie schließlich ein Objekt gefunden, welches nicht von ihrer Mutter genommen und deshalb geliebt werden kann, ohne dass zugleich Angst und Aggression mobilisiert werden müssen: Der Todeswunsch wird obsolet. Damit zeichnet sich eine Lösung des zwangsneurotischen Dilemmas ab.

 


1https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html [10.03.2023].

2https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html [10.03.2023].

3 http://id.who.int/icd/entity/1582741816 [10.03.2023].

4https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html [10.03.2023].

5https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html [10.03.2023].

6 Nota bene: Es handelt sich hier um eine strukturale Kategorie, nicht um ein Objekt im personalen Sinne. Daher ist die Bezeichnung „Anderer“ unabhängig von physischem und grammatischem Geschlecht.

7 Dies impliziert selbstverständlich nicht, dass dies die einzige Erklärung für selbstverletztendes Verhalten wäre, das durchaus auch symbolische Bedeutung haben kann.

8Übersetzungen hier und nachfolgend durch den Autor.

9 Filmzitate hier nachfolgend aus dem Englischen durch den Autor übersetzt.

 

Literaturverzeichnis

Balint, Michael (1973): Therapeutische Aspekte der Regression. Reinbek: Rowohlt.

Clarkin, John F., Yeomans, Frank E., Kernberg, Otto F. (2001): Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeit. Stuttgart: Schattauer.

Fink, Bruce (2017): A Clinical Introduction to Freud. New York: Norton.

ICD-11 unter https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html. [10. 03. 2023].

Israel, Lucien (2020): Die unerhörte Botschaft der Hysterie. München: Ernst Reinhardt.

Laplanche, Jean (2004): „Die rätselhaften Botschaften der Anderen und ihre Konsequenzen für den Begriff des ‚Unbewussten‘ im Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie“. In: Psyche 58, S. 898-913.

Neubaur, Caroline (2019): „Rezension: Wolfgang Mertens. Psychoanalytische Schulen im Gespräch über die Konzepte Wilfried R. Bions“. In: Psyche 73, S. 391-394.

Reed, Gail S. (1989): „Regeln klinischen Verstehens in der klassischen Psychoanalyse und in der Selbstpsychologie.“ In: Psyche, Bd. 12, S. 1094-1116.

Rudolph, Elena (2022): „Kassensitze sind zum Luxus-Gut geworden“. https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/42344-kassensitze-sind-zum-luxusgut-geworden-das-stoert-elena-rudolph.html [2023-02-03].

Verhaeghe, Paul (2004): On Being Normal and Other Disorders. New York: Other Press.

 

Filmverzeichnis

Marnie. USA 1964. Regie: Alfred Hitchcock. 130 min.

 

Autor:in: Stefan Ohlrich, M.A., studierte Deutsche Sprache und Literatur sowie Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Hamburg. In der Masterarbeit befasste er sich mit der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit aus kognitionslinguistischer Perspektive. Während er sich zunächst über Fernhochschulen sowie private und psychoanalytische Institute weiterbildete, studiert er aktuell an der Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin und arbeitet freiberuflich als psychoanalytischer Berater.