Lutz Goetzmann

Y – Z Atop Denk 2022, 2(5), 1.

Abstract: In folgendem Kurz-Essay berichte ich von einem Spaziergang am Frankfurter Mainufer; ich verstehe diese Gedanken als Antwort auf Nico Graacks Artikel „Das Schweigen der Jugend“, der kürzlich in der Tribüne unserer Zeitschrift Y erschienen ist. Ich gehe von der Erfahrung einer mir ungewöhnlich stark erscheinenden Hitze aus, d.h. von der starken Sonnenwärme auf der Haut, die ich mit dem Hyperobjekt einer als apokalyptisch erlebten Erderwärmung in Verbindung bringe. Auf dem Spaziergang beginne ich meine tiefe Traurigkeit – die Erde in einem derart miserablen Zustand zu übergeben – als eine Antwort auf das „Schweigen der Jugend“ zu begreifen, und ich frage mich mit Hilfe der Ökosophie Guattaris, ob dieser geschilderte Affekt nicht doch einen Ausgangspunkt für neue Formen der Subjektivität: des Zusammenlebens und der Gestaltung der Gesellschaft, der Ökonomie, der Kultur sein kann. Ich beschließe diese Gedankengänge mit der Überzeugung, dass die Psychoanalyse hier einen substantiellen Beitrag leisten sollte.

Keywords: Erderwärmung, Hyperobjekt, Ökosophie, Sitzblockade, neue Subjektivität

Veröffentlicht: 30.05.2022

 Artikel als Download: pdfMit tiefer Traurigkeit

 

Vor einigen Wochen besuchte ich ein Symposium in Frankfurt; Tagungsort und Hotel lagen am Frankfurter Osthafen, einem hippen Industrieviertel, das an das Ufer des Mains grenzt. Ich spazierte aus der Innenstadt am Mainufer entlang. Diese Route ist wirklich zu empfehlen, falls man an einem späten Märztag den Frankfurter Frühling genießen möchte. Der elegante Tower der Europäischen Zentralbank scheint keinerlei Schatten auf die Promenade zu werfen, er ruht in sich, er ist ein blitzendes Drittes zwischen Fluss und Himmel. Und alles ist rundum sehr blau. Auf ihrem Gelände, also auf dem Gelände dieses äußerst wichtigen Bankengebäudes liegt der Deportationskeller der Frankfurter Großmarkthalle, das lerne ich von Google Maps, als ich auf einer der wirklich chic und modern arrangierten Bänke Platz nehme. Junge Menschen sitzen am Mainufer, eine junge Frau lehnt an die Schaufel eines ausrangierten Baggers, während andere, junge Männer, ihre Muskulatur trainieren. Oder sie stehen herum, mit irgendwelchen Energydrinks, diese gleichfalls blitzenden Dosen in den Händen. Es ist heiss, und die Sonne brennt im Gesicht. Es ist viel zu heiss für Ende März. Aber das ist nicht diese grandiose Hitze, die Camus beschreibt, an algerischen Stränden, in den Städten Nordafrikas. An diesem Märztag betaste ich meine Haut, sie ist noch ganz kühl, natürlich, es ist März – aber sie brennt, vielleicht wäre eine Sonnencreme gut – gleichwohl ich Nivea eher mit Ägäis und August verbinde, mit diesem olfaktorischen Stich ins Sommerlich-Primitive: Sonne und gelber oder weißer Sand oder Strand ...

Ich versuche, mich auf der Bank vor dem Tower bequem einzurichten – und fühle mich, darum geht es, total traurig, ja es ist eine tiefe, seltsam beklommene Traurigkeit, kein schönes Gefühl. Was ist los? Ich bin jetzt fast sechzig Jahre alt. Das ist ein Anlass für solche Gefühle. Aber eigentlich ist es die Hitze, die mich so trifft, dieser unverschämt nackte, blaue Frankfurter Äther. Mit dem Main, der durch diese Industrie- und Stadtlandschaft fließt. Am Süd- oder Nordpol soll die Temperatur heute um 30 Grad über die üblichen Werte gestiegen sein. So heiss ist es in Frankfurt nicht, aber ich bin trotzdem von dieser Traurigkeit erfasst. Sie ist überall. In diesen Jahren lässt sich das Leben allmählich überblicken, die Zeit läuft tatsächlich immer schneller ab, und ich werde wohl die wahren Katastrophen, die auf uns zukommen, die ich mir kaum vorstellen kann, oder nur dank einer apokalyptischen Phantasie, ich werde diese Katastrophen wohl nicht mehr erleben.

Ich stecke in diesem Affekt, weil ich diese Welt in einem denkbar schlecht bestellten Zustand verlassen werde. Wir investieren in Raketen und Panzer, weil ein Wahnsinniger und seine Leute einen Krieg vom Zaun brechen, der so unsinnig ist wie alle Kriege. Im letzten Moment unseres Weltdaseins schlagen wir uns die Köpfe ein. So sind wir, unsere Haupteigenschaft scheint eine „primäre Feindseligkeit“ zu sein (Freud 1930, S. 471). Der Kahn über den Styx wird zum Rettungsboot, und niemand blickt gerne zurück. Hinter mir erhebt sich der Tower einer Weltbank. Überall stehen neue chice Häuser. Dieser viele Beton soll auch die Luft kaputt machen. Wir: meine Generation hat das im Großen und Ganzen alles kaputt gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit Nachsicht rechnen können. Es ist heiss, so unangenehm, dass ich lieber aufstehe und weitergehe. Das acherontische Boot wird zum Rettungskahn, denke ich, und schaue auf den trägen, in seiner Masse irgendwie indifferenten Main. Flugzeuge landen und starten, klar, Frankfurt.

1989 stellte Felix Guattari, der wenige Jahre später verstarb, auf einem Divan seiner Klinik liegend, nicht nur eine schlimme Zeitdiagnose; das Schlimmere ist, dass auch seine Prognose voll zutrifft:

„Der Planet erfährt eine Zeit intensiver technisch-wissenschaftlicher Veränderungen, als deren Kehrseite bedrohliche ökologische Ungleichgewichte erzeugt werden, die, wenn keine Abhilfe geschaffen wird, die Verwurzelung des Lebens auf seiner Oberfläche gefährden. Parallel zu diesen Umwälzungen entwickeln sich die individuellen und kollektiven Lebensweisen des Menschen in Richtung einer fortschreitenden Verschlechterung.“ (Guattari 2019, S. 11).

Das war 1989. Und wo stehen wir heute? Die Wüste dringt vor und die Wälder werden gerodet. Immerhin ist in Deutschland eine ökologische Partei in der Regierung, ein Philosoph und Jugendbuchautor ist Vizekanzler, aber womit beschäftigt er sich? Mit der Beschaffung von Gas. Keine blühenden Wüsten, keine atmenden Wälder. Die Beziehung zwischen der Subjektivität und „ihrer sozialen, tierischen, pflanzlichen oder kosmischen Äußerlichkeit“ sei in einer Art Implosion und regressiven Infantilisierung gerutscht (Guattari 2019, S. 11). Die „harte und reine Subjektivität der Arbeiterklasse“ ist zerfallen. Die Sitzstreikenden, so lese ich bei Ihnen, lieber Herr Graack, werden von Arbeitern beschimpft. Alle subjektiven Positionen werden von „derselben imaginären Deckschicht“ überzogen (Guattari 2019, S. 15). In diesen Tagen werden von allen Seiten Panzer und Waffen in die Ukraine geschafft, man spricht von atomaren Minibomben, China kreuzt vor Taiwan, und Pjöngjang sendet Flugkörper in Richtung Tokyo, Los Angeles oder San Francisco. In diesen Tagen schlägt sich die Menschheit, bei steigender Hitze, die Köpfe ein. Und derweil sterben die Arten, und das Hyperobjekt der Wärme erhitzt sich, mit dem Effekt auf meiner Haut, die ihre Winterbleiche mit der Röte einer drohenden Groß-Katastrophe camoufliert.

Hyperobjekte sind übrigens riesig, sie sind so dauerhaft, dass sie unsere Vorstellungen von Zeit und Raum sprengen (Morton, 2011). Die globale Erwärmung ist ein Hyperobjekt oder die atomare Strahlung. Hyperobjekte lassen uns nie in Ruhe. Hyperobjekte sind nicht-lokal. Es gibt kein Escape, da Hyperobjekte überall sind, sie sind wie die Hitze, die an mir klebt. Wir müssen uns daran gewöhnen, sagt Timothy Morton (2011), dass wir in einem Objekt leben, ich, der Osthafen, die Flaneure und Sportler leben in diesem Hitze-Objekt. Hyperobjekte sind zähflüssig, man wird sie nicht los, sie sind wie das Reale. Hyperobjekte sind per se unheimlich. Dadurch, dass die Erderwärmung nicht-lokal ist, ist sie überall. Das wahre Hyperobjekt ist das Reale, das Reale der Hitze, die an allem klebt, und die reale Strahlung der Kernkraftwerke und überhaupt der Müll. Lacans Objekt a lässt sich als extimes Hyperobjekt denken, ohne Grenze, ohne Riss. Dies ist das Ende der Welt, d.h. das Ende der ästhetischen Idee von „Welt“ als einem umfangenden und Abstand haltenden Horizont. Müll ist ein Hyperobjekt. Plastik ist ein Hyperobjekt. Zeit ist ein Hyperobjekt. Sie bewegt sich wellenförmig und zieht ihre Kreise. Irgendwann fallen wir aus der Zeit. Der Tod ist ein Hyperobjekt, aber die Zeit und der Tod teilen sich, als Hyperobjekte, das auf, was wir das Ganze nennen.

Lieber Herr Graack, Sie sind, so schätze ich, wesentlich jünger. Badiou (2016) sagt, die Ganz-Alten, die knapp nach dem Weltkrieg jung waren, sollten sich mit der Jugend von heute verbünden, gegen die, die diesen ganzen Mist (wenn ich das so sagen darf) verbockt haben, diesen wütenden Kapitalismus und seine zersetzende Logik. Meinetwegen – macht, was ihr wollt. Brecht schrieb ein Gedicht, das er an die Nachgeborenen richtete. Er bat um Nachsicht (Brecht, 1939). Sie sagen, Sie fixieren sich auf den Straßen fest und lassen sich von Leuten, die in Eile sind, beschimpfen. Vernünftige Vorschläge sind sinnlos, weil sie das System erhalten, also: kein Agreement, kein Appeasement – kein Appeasement mit dem Lufthunger emporstürzender Wolkenkratzer, keine Wärmepumpen usw. – vielmehr ein resolutes Nein. Soweit ich Sie verstehe, braucht es das Sich-Verweigern-der-Worte, diesen Diskursabbruch, und das geschieht draußen, vor Ort, auf den Brücken und den Autobahnen, als ob sich aus dem Eklat des Realen etwas Neues bilden würde, etwas, was noch nicht gedacht wurde, etwas, nämlich, so denke ich, ein Zusammensein auf dieser Erde – ohne diese blitzende Gier und deren alles vernichtende Toxizität.

An diesem Nachmittag war ich ins Hotel gegangen, ich wurde abgelenkt, hielt einen Vortrag. Das Leben ging weiter, trotz Corona, Putinpanzer und Packeisschwund. Die Traurigkeit blieb irgendwie in mir. Hier dieser seltsame Affekt, wohl auch, so dachte ich, die der Endlichkeit geschuldete Larmoyanz derer, die älter werden – dort Ihr Schweigen auf der Autobahn. Aber in der seelischen Tiefe ist es trotzdem mehr: Ist das Gefühl, dass eine ganze Generation versagt hat, rund um den Erdball, jedenfalls in den Industrieländern, und dass man am Ende geht und das alles, die ganze Misere, anderen überlässt. Scham, Trauer, Ohnmacht, Schuld. Ich erzähle diese persönliche Misere jemandem aus meiner Familie, aus der folgenden Generation, und die Antwort, die ich erhalte, ist: „Immerhin bist du traurig, dann hat dieser Sitz-Streik, dieser Diskursabbruch doch etwas bewirkt“ ... – Aha, denke ich, ach so ... – dann wäre dieses Gefühl, diese eigentümliche Gemengelage aus dem allmählichen Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit und der irrsinnigen Weltdestruktivität, die nicht nur eine Projektion (die Standarderklärung), sondern tatsächlich stattzufinden scheint, dann wäre dieses Gefühl ein erster Reflex, ein Reflex auf Ihr Schweigen – Hier ist ein Bruch. Gut, denke ich ein Reflex – ein mehr oder weniger einfacher, vielleicht überflüssiger Affekt. Wäre es nicht richtig, dieses Gefühl in seiner Privatheit zu belassen? Dieses Private, Abschiedliche, Schuldhafte, diese Geschichte aus eigener Endlichkeit und befürchteter Endzeit für sich zu behalten?

Ich habe Guattaris Buch, das ich schon erwähnte, Zeile für Zeile gelesen. Guattari (2019, S. 35): „Nicht nur die Arten verschwinden, sondern auch die Worte, die Sätze und die Gebärden der menschlichen Solidarität.“ Er findet diese Sätze und Gebärden in drei Registern (Guattari 2019, S. 12); ganz offensichtlich liegt hier ein borromäischer Knoten der Ökologie vor, in diesem Sinne mit den Registern der Umwelt, des Sozialen und der Subjektivität. Guattari spricht von einer „politischen, sozialen und kulturellen Revolution“, welche „die Mikrobereiche der Empfindsamkeit, der Intelligenz und des Wunsches“ umfasst (Guattari 2019, S. 13). Ich überlege mir, ob mein Frankfurter Bankaufenthalt (vor der Bank, auf der Bank, unter der Bank ...) ein solcher Mikrobereich war. Guattari (2019, S. 22 f.) setzt nicht auf den Typus der professionellen Psys, d.h. der Shrinks, die in der Welt eines „veralteten Ideals der Wissenschaftlichkeit“ leben, gezeichnet von seinem „szientistischen Überich“, das die Psyche zu einem zählbaren und abrechnungswürdigen Gegenstand macht, zu einer Entität, deren Erfassung „ausschließlich mittels extrinsischer Bezugsgrößen“ erfolgt (Guattari 2019, S. 24) – nein, Guattari will etwas anderes. Es geht ihm um eine „dissidente Subjektivität“ (Guattari 2019, S. 53). Er denkt an eine Art künstlerisches oder ästhetisch-ethisches Vorgehen. Er sagt, wir sollten uns aller szientistischen und kapitalistischen Referenzen (in diesem offensichtlich unauflöslichen Bündel) entledigen, über Bord werfen, um etwas Neuartiges, um neue, „ethisch-ästhetisch inspirierte Paradigmen“ zu (er)finden. Und er fragt: „Sind denn die besten Kartographien der Psyche, oder, wenn man so will, ihre besten Analysen, nicht das Werk eines Goethe, Proust, Joyce, Artaud und Beckett, eher als das von Freud, Jung und Lacan?“ – Natürlich schließt diese Perspektive „vereinigende Zielsetzungen“ nicht aus, etwa den Kampf gegen Hunger, gegen die Waldrodungen, gegen die Nuklearindustrie, die Unterdrückung von Minderheiten. Aber es geht hier um kein geschlossenes An-sich, sondern um ein „prekäres, endliches, begrenztes, einzelnes, vereinzeltes Für-sich, welches sich aus einer „prozessuale Öffnung“ oder einer „lebenspraktischen Öffnung“ ergibt, also mit Praxisformen, die das menschliche Projekt bewohnbar machen (Guattari 2019, S. 49). Guattari sagt:

„Das entscheidende Ziel ist die Erfassung der a-signifikanten Bruchpunkte – dort, wo Denotation, Konnotation und Bedeutung zerbrechen –, von denen ausgehend semiotische Kettenglieder dazu ansetzen werden, im Dienste einer existentiellen Selbstbezüglichkeit zu wirken“ (Guattari 2019, S. 53).

Das Individuum bildet eine Art Terminal für die Vektoren der Subjektivierung, welche Extimes und Intimes als Passagen verwenden (Guattari 2019, S. 23). Hier geht es um die Intensität evolutionärer Prozesse (Existenz, Konstitution, Deterritoritorialisierung, Prozesse der „Werdung“, d.h. des mise à l’être). Es geht um „ausdrucksfähige Teilmengen“, die mit ihrer Einbindung gebrochen haben. Sie folgen vielmehr, auf eigene Rechnung arbeitend „prozessualen Fluchtlinien“, welche einen Ausweg aus dem System bilden – oder die Abkehr von einem vorgezeichneten Weg, die Entsagung vorgegebener Ziele, die Erschließung neuer Territorien – kurz: welche eine Deterritorialisierung oder Loslösung evozieren (vgl. Karl Anton Fröschl, o.J.). Also: das Schweigen, d.h. der Diskursabbruch (D) – der Affekt der Traurigkeit, als atmosphärisches Gefühl (A) – der Bruch (/), das ist die Sequenz, und mit dem Bruch bildet sich, in der Mitte des Affekts, eine Fluchtlinie (...):Mit tiefer Traurigkeit Abb 1

... das ist eine Fluchtlinie, die sich aus einer Atmosphäre, die räumlich ist, die Guattari wohl als irgendwie deterritorialisiert umschreiben würde, herausbildet, in einer Dimension, deren Zählung ich nicht – oder nicht so genau kenne. Guattari (2019, S. 51) spricht über „Fragmente von a-signifikanten diskursive Ketten, die Friedrich Schlegel mit Kunstwerken verglichen hat: „Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerk von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich vollendet sein wie ein Igel.“ (Schlegel, 1967, S. 197). Die Traurigkeit, d.h. die affektive Atmosphäre als eine Subjektivierungspraxis – und die Fluchtlinie als eine Spur des Igels, die selbst im Entstehen begriffen ist, in einem nicht näher bezeichneten Grasland. Wie bei einer Deutung, d.h bei der Schöpfung eines Gedankens geht es um den Raum { }A, wo sich dissidente Vektoren bilden: eine solche vektorielle Entfaltung des Raumes muss jedes Individuum, jedes Kollektiv in seinen kleinen und großen Momenten selbst füllen. Im Herzen dieser ökologischen Praxis sind diese a-signifikanten Brüche existentielle Katalysatoren: Dazu gehört er Diskursabbruch und auch der Bruch in meiner affektiven Abgründigkeit: Dieser a-signifikante Bruch, so Guattari, ruft „nach einer schöpferischen Wiederholung, um unkörperliche Objekte, abstrakte Maschinen und Wertewelten zu prägen, die sich aufdrängen, die sich aufdrängen, als seien sie immer ‚schon da‘ gewesen, obschon sie vollständig vom existentiellen Ereignis abhängig sind, das sie hervorbringt.“ (2019, S. 36) Es geht um den „Aufbau eines existentiellen Territoriums“, das jeden betrifft, im Grunde jeden auf diese Erde, jeden, der sich zur Gruppe der Menschheit zählt. Und diese Territorien können ganz beliebig deterritorialisiert sein: Sie können sich als „Himmlisches Jerusalem“ zeigen, in einem Choral, oder in einem ethisch-politischen Engagement, in der Geste einer Psychotherapie usw. Ihr Gemeinsames ist dabei, wie Guattari (ebd., S. 30) sagt, „die Erzeugung von singulären Existenzen und die Singularisierung „serialisierter Gesamtheiten“.

Da bin ich also, auf meiner Fluchtlinie, und ich habe nichts als meine Sympathie für Freud, Lacan, Goethe, Proust, Beckett, Artaud usw. – und mein Gefühl wird für mich ein atmosphärischer Raum, eine Atmosphäre, in welcher sich ein Extimes bildet: ein Vektor, mehrere oder viele Vektoren, die den Fluchtlinien folgen. Guattari (2019, S. 68) will „Referenzuniversen und existentielle Territorien erschaffen, worin Singularität und Endlichkeit durch die polyvalente Logik der mentalen Ökologien und durch das Prinzip des Gruppen-Eros der sozialen Ökologie berücksichtigt werden, sich der schwindelerregenden Konfrontation mit dem Kosmos zu stellen, um diesem einem möglichen Leben zu unterwerfen“, dies alles sind die verschlungenen Pfade einer ökologischen Vision. Er will „eine Subjektivität der Resingularisierung, die in der Lage ist, die Begegnung mit der Endlichkeit in Gestalt des Wunsches, des Schmerzes, des Todes und so weiter mit voller Wucht aufzunehmen“ (Guattari 2019, S. 70).

Ich bin Psychoanalytiker, und auf dem Weg zu einem Symposium. Das ist mein Gebiet. Guattari (2019, S. 28) sagt: Die „Psy-Operatoren” (wie er sich ausdrückt) hätten eine große Verantwortung, ebenso wie alle, welche auf die individuellen und kollektiven psychischen Instanzen einzuwirken vermögen, etwa durch die Erziehung, sagt er, durch das Gesundheitswesen, Kultur, Sport, Medien, Kunst, Mode usw. Die Analytiker sollten sich auf keinen Fall hinter ihrer (sozialen) Neutralität verschanzen. Auf dieser Linie, dieser Igelspur, die Subjektivität ist, geht es um Neuerungen, um neue Worte, um den Schwung des Pinsels: „Work in progress!“, ruft Guattari, Schluss mit den „Katechismen“.

Nun, mit Menschen, mit den einzelnen und in der Gruppe, können wir kommunizieren, da gib es klare Vorstellungen, wir haben die Sprache. Aber wie ist es mit der Natur? Timothy Morton (2011) schlägt vor, dass wir mit der Natur (dem dritten Aspekt des ökologischen Denkens), d.h. mit den Dingen in Kontakt treten, also mit dem Main, diesem trägen Frankfurter Fluss, und mit dem Äther, mit dem Gras der Parkanlagen, mit dem Bagger und meinetwegen auch mit dem Stahlglas-Ungetüm der europäischen Zentralbank. Morton meint, das geht aus einer Art „Null-Person-Perspektive“. Ein Synonym für die „Null-Person“ wäre die Essenz, d.h. man kann das Wesen einer Sache vielleicht beschreiben, aber immer nur bis zu einem gewissen Grad, man kann eine Sache nie erschöpfend beschreiben. Die Bäume, die Protonen, die Tiere, aber auch die Nationen und die Menschen erschöpfen sich niemals in irgendeiner ihrer Manifestation. Man muss den Objekten eine Null-Personen-Realität zustehen. Dies könnte zu einer Version führen, in der alle Objekte ein psychisches Leben haben (Harman, 2009): Dann hätte sogar der Äther eine Seele, und auch das Gras usw. Ich will damit sagen, dass auch solche Gedanken, dass die Umwelt, die wir zerstören, beseelt sei und über eine subjektive Essenz verfügen könnte, und nicht nur der Mensch zu diesen Vektoren zählt, die aus der Atmosphäre des Affekts, der Traurigkeit, der Schuld herausführen.

Johannes Kepler dachte als erster Astronom den Gedanken der Ellipse, nicht des gewöhnlichen Kreises, und plötzlich ergab sich eine Übereinstimmung zwischen den Daten, u.a. des Tycho Brahe, die nicht zu dem theologisch-göttlichen Kreis-Prinzip passten, und dem Modell der Ellipse – und das war der Durchbruch, um die Beobachtungsdaten mit einem theoretischen Modell, das neu gedacht wurde, zu verbinden (vgl. Holder 2015, S. 59 f.). So geht auch die unverzichtbare Utopie des Symbolischen: es muss ein neuer Gedanke gefast werden. Nun, ich bin weitergegangen, am Mainufer entlang, folge dem Punkt auf Google Maps, der mich zu dem Hotel führte, und Sie hefteten sich auf dem Asphalt fest. Aus diesem Realen – sozusagen des Klebstoffs, der doch ein Geschwister der Hitze ist, wird etwas Neues entstehen, emporsteigen – in diesen chaotischen, hitzefinsteren und raketengeschwängerten Zeiten, wo die Erde aus dem Takt gerät und sich die Flüchtlingsströme formieren. Entsteht aus dem Schweigen der Jugend und ihrem unnütz-nötigen Reflex, dem sozialen Affekt etwas Neues, etwas Ungeahntes? Die Idee der ökologischen Ellipse? Nun, jetzt hatte ich mein Google-Ziel erreicht, hier war das Hotel, direkt daneben lag der Tagungsort, das war sehr praktisch, und für einen Moment der Ablenkung war alles wieder in Ordnung – aber nur für den Moment, das ist doch klar. Guattari (2019, S. 36) sagt: „Die ökologischen Praktiken werden bestrebt sein, an jedem partiellen existentiellen Ausgangspunkt die Vektoren der Subjektivierung und Vereinzelung ausfindig zu machen“ – und dies geschieht im Diskursabbruch auf der Autobahn, und auf der Sitzbank im Frankfurter Osthafen. Nochmals, zum Abschluss, ein Zitat aus dem Buch, das mir geholfen hat:

„In Zukunft wird es nicht mehr nur defensiv um eine Verteidigung der Natur, sondern um eine Offensive gehen, um die Lunge von Amazonien wieder herzustellen oder die Sahara wieder zum Blüten zu bringen.“ (Guattari 2019, S. 68).

 


Literaturverzeichnis

Badiou, Alain (2016): Versuch, die Jugend zu verderben. Berlin: Suhrkamp.

Brecht, Bertold (1939): „An die Nachgeborenen“. https://www.lyrikline.org/de/gedichte/die-nachgeborenen-740

Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. In: GW XIV, S. 412-516.

Fröschl, Karl A. (o.J.): „Territorien und Fluchtlinien“. https://homepage.univie.ac.at/karl.anton.froeschl/ts_zgwi_material/muehlbergerco/Territorien_und_Fluchtlinien.htm

Guattari, Felix (2019): Die drei Ökologien. Wien: Passagen-Verlag.

Harman, Graham (2009): „Zero-person and the psyche“. In: David Skrbina (Hg.): Mind that abides: Panpsychism in the New Millenium. Amsterdam: Benjamin, S. 253-282.

Holder, Martin (2015): Die Kepler-Ellipse. Siegen: Universitätsverlag Siegen.

Morton, Timothy (2011): „Zero landscapes in the times of hyperobjects“. https://www.academia.edu/1050861/Zero_Landscapes_in_the_Time_of_Hyperobjects

Schlegel, Friedrich (1967): Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedich-Schlegelausgabe, Kritische Neuausgabe, Band 2. München/Paderborn/Wien/Zürich: Schöningh, S. 165-256.

 

Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa / IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.