Maximilian Thieme

Y – Z Atop Denk 2022, 2(8), 1.

Abstract: „Die Ergründung des Verhältnisses geistiger Tätigkeit zur Welt ist keine Frage unter anderen“, schreibt Geoffroy de Lagasnerie. Und dies gilt umso mehr, wenn wir diese Tätigkeit „kritisch“ nennen. Mein Versuch, diese Frage von Gewicht zu beantworten, versammelt die entschiedensten Stimmen einer intellektuellen Tradition, die sich ein durch und durch politisches Wissenschaftsverständnis gegeben hat. Auf diese Weise entsteht ein Gespräch, das nach einer intellektuellen Ethik sucht, wie sie Projekte kritischen Denkens anleiten könnte und sollte. Ein Manifest gewissermaßen, dem es darum geht, ein Erbe zu beschwören und darin jene Lebendigkeit und Widerspenstigkeit zu finden, deren eine „Kritik“ bedarf, die ihren Namen verdient.

Keywords: Intellektuelle Ethik, Kritik, Emanzipation, Poststrukturalismus

Veröffentlicht: 30.08.2022

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Warum tun wir, was wir tun, wenn wir einer „intellektuellen Tätigkeit“ nachgehen? All die Stunden des Lesens, Schreibens, Wiederlesens, Neu- und Umschreibens, die Vorträge und Publikationen, die Kolloquien und Konferenzen – wozu sind sie gut? Welchem Zweck dienen und welchen Sinn verfolgen sie, vor allem dann, wenn wir diese Tätigkeit „kritisch“ nennen? Zurecht hat Geoffroy de Lagasnerie (2018, S. 9–10, 14) die Frage nach dem Wert dieser Tätigkeit gestellt. Und zwar als Frage nach dem Verhältnis ebendieser Praxis zur Welt: einer Welt, die es in ihrer Falschheit zu kritisieren und in ihrer Schlechtigkeit zu überwinden gilt.

Diese Frage – und im Grunde schon ihre bloße Möglichkeit – scheint allerorten eine Bereitschaft, wenn nicht gar ein Bedürfnis hervorzurufen, Grenzen zu ziehen und Differenzierungen zu bemühen: Allererst, sagt man, müsse man das Verhältnis von Theorie und Praxis zum Gegenstand einer Diskussion machen. Also stürzt man sich eifrig in die Begriffsarbeit, in erkenntnistheoretische und methodologische Reflexion und schließt sich derart wiederum in die Sphäre des bloß Theoretischen ein (was gleichbedeutend damit ist, sich gegen jeden sozialen, politischen oder ökonomischen Kontext abzuschließen, in den wir doch verstrickt sind).1 Man zieht sich in den Schutzraum eines Dispositivs zurück, das die „Autonomie der Wissenschaft“, ihren „Eigenwert“, gegen die Frage nach ihrem Nutzen setzt. Man sagt, die Philosophie, die Soziologie, sie müssten sich als Wissenschaften dagegen wehren, zu Politik gemacht zu werden. Und oftmals geht der wissenschaftliche Argwohn gegenüber der Welt sogar so weit, dass man davon abrät, „Ich“ zu sagen, schließlich disqualifiziere man sich als Sprecher:in, korrumpiere man den eigenen Diskurs mit „wissenschaftlichem Anspruch“ durch jeden Verweis auf jene wankelmütige, aus dem Leben hervorgegangene Gestalt, verwickelt in all ihre Affekte und bloßen Überzeugungen. – Ein selbstbewusster Diskurs mit einer seltsamen Teilnahmslosigkeit zur Begleiterin.

Dass aber die Tatsache einer solchen scheinbaren Einmütigkeit nicht allein zur Zustimmung verpflichtet, dass es auch anders geht, zeigt eine Antwort, die man mit Gilles Deleuze auf de Lagasneries Frage geben kann. Sie überschreitet jede der angestrengten Grenzziehungen und lautet wie folgt: „Man schreibt immer, um Leben zu geben, um das Leben zu befreien, wo es eingekerkert ist […]“ (Deleuze 1993, S. 205). Das Schreiben, von dem Deleuze hier spricht, ist ein theoretisches, und doch eines, dessen Praxis unmittelbar auf das Leben ausgerichtet und also mit Blick auf seine Auswirkungen in der Welt begriffen ist. Denn es will „Leben geben“ und Deleuze sagt auch, was das bedeutet: es zielt auf die Befreiung eines Lebens, das in Ketten liegt, sofern es als Seele und als Körper unterworfen, das heißt ein Produkt von Herrschaft ist (vgl. Foucault 1993, S. 42).

Ein Denken und Schreiben, das sich dem Ziel dieser Befreiung verpflichtet, ist emanzipatorisch. Fremd ist ihm die Trennung von der Praxis als seinem Anderen ebenso wie jenes „Bedürfnis, zu nichts nütze zu sein“, das überall dort beobachtbar ist, wo sich „Engagement“ und „Intervention“ als problematische zu ihrer Erklärung und Rechtfertigung aufgefordert finden (de Lagasnerie 2018, S. 26). Wogegen Deleuze‘ Worte sich mithin richten, ist die Vorstellung einer wissenschaftlichen „Neutralität“, in der sich vielmehr ein Engagement gegen das Engagement ausdrückt. Stattdessen spricht er von Theorie und Praxis in Beziehung, oder richtiger als Beziehung. Und mehr noch: diese Beziehung sei etwas, das man „lebt“ (Deleuze/Foucault 1972, S. 52).

 

Theorie, Praxis…

Diese Gedanken teilt und diskutiert Deleuze gemeinsam mit Foucault in einem berühmt gewordenen Gespräch, zu einer Zeit, da beide gemeinsam in der Bewegung des GIP aktiv sind.2 Es wäre müßig und verfehlt, diese Bewegung als theoretische oder politisch-aktivistische einordnen zu wollen. Denn vielmehr veranschaulicht sie, worauf Deleuze mit seiner Rede von der gelebten Theorie-Praxis-Beziehung hinauswill: Es gibt hier keinen Übergang von der Theorie zur Praxis; keinen Gegensatz zwischen intellektueller und politischer Kritik; keine zwei einander nachgeordneten Zeiten, zunächst die der theoretischen Diskussion und anschließend die der Begegnung mit der Welt als realer Veränderung. Es gibt ein lokales, partielles, fragmentarisches „Ganzes“ als ein System von Verbindungselementen: „Die Praxis ist ein Ganzes aus Verbindungselementen von einem theoretischen Punkt zu einem anderen, und die Theorie ist ein Verbindungselement von einer Praxis zur anderen“ (Deleuze/Foucault 1972, S. 52).

Wie fügt sich ein Denken, das sich die Befreiung des Lebens zum Ziel gesetzt hat, in ein solches System? Das Denken Michel Foucaults mag das veranschaulichen: Seine Kritik der Einsperrungen bezeugt ein Denken, das Arbeit an sich selbst verrichtet, sofern es sich selbst befreien muss, will es ein eingekerkertes Leben befreien können. Eine Arbeit, deren Dringlichkeit und Notwendigkeit sich am Leben selbst entzündet: an einem persönlichen Unbehagen und einer tief empfundenen Unruhe angesichts der Gewalt von Normen und Institutionen und der Machtsysteme, die diese bilden – ein spontaner, affektiver Ungehorsam gewissermaßen.

Dieses kritische Denken trifft jedoch, wie Deleuze einwendet, während es sich ausformuliert und Gestalt annimmt, unweigerlich auf „Hindernisse“, auf „Mauern und Schranken“: Begrenzungen, die auf das Fundament der Dispositive verweisen, durch die wir als Subjekte hervorgebracht werden. Sie umreißen einen Möglichkeitshorizont und formen unsere Vorstellung davon, wer und was wir sein, wie wir denken und was wir tun können. Ein Denken, das auf Emanzipation aus ist, stößt sich an diesen Mauern. Sofern es aber die Arbeit auf sich nimmt, sich von sich selbst zu lösen, gelten ihm diese Grenzen nicht länger als Zeichen einer Unmöglichkeit; es erfährt sie vielmehr als die Unerträglichkeit einer Unterdrückung, die es fortan nicht länger wird hinnehmen wollen oder können.3

Um diese Mauern abtragen, sie durchstoßen zu können, braucht es die Praxis, so Deleuze. Man muss tätig sein, muss Wirkungen produzieren wollen. Und zu diesem Zweck gilt es Verbindungen zu schaffen: Verbindungen von Gesprächspartner:innen und Adressat:innen ebenso wie Verbindungen von Diskursen unterschiedlichen Typs, die sich nicht institutionell, sondern politisch verbunden wissen.4 Es geht um die Schaffung eines heterogenen geistigen Raumes, dessen Elemente sich unmittelbar in tätige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt begeben, das heißt auch mit den unterworfenen Leben selbst sowie den Kämpfen, die für deren Befreiung geführt werden.

Das Wissen, das im Rahmen eines solchen Engagements erarbeitet wird, ist kein Wissen um seiner selbst willen – es handelt sich hier vielmehr um ein Gegen-Wissen, in welchem sich theoretische Kenntnisse mit dem verbinden, was Foucault „unterworfene Wissen“ genannt hat, denen auf diese Weise zu einem Aufstand verholfen wird: das „Wissen der Leute“ als ein aus dem Leben geschöpftes „Spezialwissen, ein lokales, regionales, differentielles Wissen […], das sich nicht in Einstimmigkeit überführen läßt und seine Kraft nur der Schärfe verdankt, mit der es zu allen umgebenden in Gegensatz tritt“. Während seinen politischen Vorlesungen hat Foucault ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Begriff der „Genealogie“ eine „Verbindung von gelehrten Kenntnissen und lokalen Erinnerungen“ in eben diesem Sinne bezeichne, „eine Verbindung, die es ermöglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe zu erstellen und dieses Wissen in aktuelle Taktiken einzubringen“ (Foucault 1976, S. 22–23).5 Überwachen und Strafen – selbst aus einem Klima des Protests hervorgegangen – ist ein Werk, in dem eine solche Synthese Gestalt gewinnt: In diesem Werk, so sein Autor, „kämpfen Texte, Praktiken und Menschen gegeneinander“ (Foucault 1984c, S. 964). Und deshalb kann er, als er es schreibt, von ihm sagen, es solle „einem Erzieher, einem Wärter, einem Richter, einem Kriegsdienstverweigerer dienlich sein können“ (Foucault 1974, S. 651) – ein reflektierter Ungehorsam gewissermaßen, als Mittel und System eines Kampfes.

 

…und revolutionäre Aktion

Die Überschreitung all der eingangs genannten Trennungen und Grenzziehungen mündet für Deleuze in die Aktion – „es gibt nur noch Aktion, Aktion der Theorie, Aktion der Praxis“, sagt er – und diese Aktion gilt ihm als „revolutionär“ (Foucault 1972, S. 53): Wer durch kritische Arbeit den Punkt erreicht, an dem sich die Wirklichkeit der Welt nicht länger denken – und ertragen – lässt wie bisher, schreibt ihr die Notwendigkeit der Veränderung ein. Für diese Veränderung einzutreten, bedeutet jedoch nicht, sich einem einzigen und umfassenden Kampf zu verschreiben. Vielmehr hat die revolutionäre Bewegung, wie sie Foucault und Deleuze (1972, S. 55, 61) vorschwebt, mehrere Herde, in deren Umfeld sich je partielle Kämpfe entwickeln. Die Taktiken der Einsperrung sind zahlreich und vielgestaltig und so müssen es auch die Kämpfe für die Befreiung des eingekerkerten Lebens sein.

Stellt man sich Didier Eribon als Teilnehmer jenes Gesprächs zwischen Deleuze und Foucault vor, würde er an diesem Punkt vermutlich bekräftigen: Was diese theoretisch-praktischen Kämpfe in erster Linie leisten können, ist, Einspruch gegen die Urteile der Macht einzulegen. Auf diese Weise könne es gelingen, neue soziale, kulturelle, politische und existenzielle Bedeutungen hervorzubringen; darin könne ein emanzipatorisches politisches Programm bestehen: „revolutionäre Bedeutungen schaffen, die nicht bloß reaktiv und negativ sind, sondern absolut positiv und erfinderisch“ (Eribon 2017, S. 263). Seinem Freund und Lehrer Foucault ist Eribon hier sehr nahe: „Nein“ zu sagen, ist mitunter eine entscheidende Geste des Widerstands, stellt oft allerdings nur dessen „Minimalform“ dar. Man kann sich den Machtbeziehungen nicht entziehen, denn es gibt sie überall dort, wo es auch Gesellschaft gibt. Deshalb muss man es auf sich nehmen, die „strategische Situation“, in welcher man befangen ist, aktiv und kreativ umzugestalten (vgl. Foucault 1984b, S. 916–917).

Ein solches Programm macht auch verständlich, dass Foucaults „Gefängnis“ nicht nur eine Analogie für die verschiedenen Einschließungs-Milieus ist, die wir im Laufe unseres Lebens durchlaufen.6 Es ist auch eine Metapher für all die Bedeutungen, die unser Sein kolonisieren, unseren Geist ebenso wie unsere Körper: Bedeutungen, in die wir eingeschlossen werden, sofern sie uns das Gesetz dessen auferlegen, was wir sind und zu sein haben, und die den Lauf unserer Existenz diktieren, indem sie nicht nur unser Verhältnis zu uns selbst, sondern ebenso das zur Welt tiefgreifend prägen. Die Vorstellung eines Lebens in Gefangenschaft, eines Lebens als Gefangenschaft – wäre sie nicht unerträglich? Aus genau diesem Grund muss man Einspruch einlegen: „muss man in sich selbst und in der sozialen Welt an der Erfindung neuer Möglichkeiten arbeiten, man muss den Widerstand formen, der sich einer Schwere widersetzt, die sich in der Vergangenheit gebildet hat und bis in die Gegenwart fortwirkt“ (Eribon 2017, S. 263).

Wenn es aber eine Vielzahl lokaler, partieller politischer Kämpfe gibt – besteht nicht die Möglichkeit, dass sie einander widersprechen? Natürlich, denn als politische Kämpfe vergegenwärtigen sie je unterschiedliche Dimensionen gesellschaftlichen Lebens, ihre Geschichten sind spezifisch, so wie es ihre Anliegen und Einsätze sind (Eribon 2018, S. 54). Und doch: Ihre (wohlgemerkt offene) „Allgemeinheit“ finden sie in einer gemeinsamen Frontstellung gegen die Machtsysteme. Man sollte daher nicht der Versuchung erliegen, die Logik der Disziplinen auf die Kämpfe zu übertragen und ihre Potentiale durch pedantische Grenzziehungen einzuhegen. Die Kämpfe für die Befreiung des Lebens, die Befreiung der Leben, müssen „transversale“ Kämpfe sein, wie Deleuze und Foucault (1972, S. 62) betonen: Kämpfe also, die sich unbeschadet ihrer Besonderheit für „Verbindungen zwischen diesen diskontinuierlichen aktiven Punkten“ offenhalten und so eine wechselseitige Übertragung von Strategien der Gegenwehr gegen die bedingungslose Zustimmung zu Evidenzen ermöglichen.7

Es mag durchaus so etwas geben wie eine „fundamentale Inkohärenz der Politik“: dass die Kämpfe, Diskurse und Zugehörigkeiten bisweilen in Konkurrenz und Konflikt geraten; dass Gleiches auch für die Identitäten gilt, die Einsatz und Errungenschaften dieser Kämpfe darstellen; dass deren Schnittstellen sich stets als fragil und provisorisch erweisen. Das alles mag stimmen. Doch muss das kein Anlass zu Traurigkeit sein und auch nicht dazu, einer „Metaphysik des Mangels“ das Wort zu reden. Denn, wie Eribon zu bedenken gibt, „ermöglicht nicht gerade die Summe all dieser Spannungen, all dieser divergierenden Prozesse, indem sie die geschlossene Verallgemeinerung verunmöglicht, das Auftreten neuer Stimmen, neuer Ausdrücke, neuer politischer Subjekte? Und erlaubt sie nicht der oppositionellen Politik und dem kritischen Denken, immer wieder neu anzusetzen“ (Eribon 2018, S. 55)?

 

Denken und Leben

Allen Autor:innen, die ich hier zu einem Gespräch zu versammeln versuche, ist sicher eines gemeinsam: Sie erkennen, dass wir auf diesem oder jenem Weg zu „Gefangenen unserer eigenen Geschichte[n]“ geworden sind (Foucault 1982a, S. 84). In unterschiedlicher Weise fragen sie danach, wer und was wir sind, und wie wir geworden sind, wer und was wir sind. Und sofern sie alle schreiben, um das Leben zu befreien, folgt aus diesen Fragen unweigerlich die entscheidende nächste: Wie können wir nicht länger sein, tun oder denken, was wir sind, tun oder denken? Foucault hat das als „historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können, und damit als Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind“, charakterisiert. Er hat gewusst, dass diese Arbeit der Freiheit vor dem eigenen Leben nicht Halt macht und dass sie potenziell endlos ist (Foucault 1984a, S. 186–187).

Diese Arbeit auf sich zu nehmen, ist nicht leicht, keine Frage. Sie ist wesenhaft Versuch und Wagnis und als solche wird sie, allen Unwägbarkeiten zum Trotz, zu diesem oder jenem Zeitpunkt notwendig: „Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist“ (Foucault 1986, S. 15). Auch Pierre Bourdieu, dessen Werk sich gleichfalls als eine Arbeit der Freiheit lesen lässt, weiß um die Schwierigkeit dieser Aufgabe.8 Sie besteht in dem Erfordernis, einen Bruch mit dem spontanen Einverständnis vollziehen zu müssen, in welchem wir uns hinsichtlich unserer eigenen Existenz, unseren alltäglichen Denk- und Lebensweisen befinden: einen „epistemologischen und zugleich damit gesellschaftlichen Bruch“, der ein „Fremdwerden der vertrauten, familialen und angestammten Welt“ nach sich zieht, d.h. in letzter Konsequenz auch ein Fremdwerden uns selbst gegenüber (Bourdieu 1987, S. 15).

Als Geste des Widerstandes ist die kritische Arbeit gleichwohl nicht einfach nur negativ, sondern auch positiv: Die Distanz, die sie herstellt, ist nicht einfach nur eine Leere der Trennung, sie bietet vielmehr Raum für eine kreative und erfinderische Betätigung. Sich von sich selbst und der eigenen Geschichte zu lösen, bedeutet demnach nicht zwangsläufig, mit leeren Händen dazustehen. Die Geschichte mag reich sein an Unterwerfung – sie ist es aber auch an Widerständen. Aus einem „Archiv der Gegenwehr“ kann die revolutionäre Aktion, die die Befreiung des Lebens im Hier und Jetzt anstrebt, mannigfaltige Inspirationen und Mittel schöpfen. Man macht sich zu Erben derjenigen, deren Engagement das eigene Leben verstehen hilft und deren „Werk“ Hoffnung spendet, da man die Zukunft in den Blick nimmt. Man hält ihnen auch die Treue, indem man das zu bewahren und fortzuschreiben sucht, was sie ausmachte, wofür sie standen und sich einsetzten. Auf eindrücklichen Seiten hat etwa Eribon (2017, S. 106–108) die besondere „Anziehungskraft“ beschrieben, die das Denken Foucaults oder Bourdieus auf ihn ausübte und die in der Gewissheit gründete, dass deren Werke ihm helfen würden, zu leben. Eine „wiederentdeckte Verwandtschaft“ gewissermaßen, die weniger aufzeigt, was man bereits ist, als vielmehr das, was man erst noch werden will.

Vielleicht lassen sich solche „Entdeckungen“ ebenfalls als eine Wiederkehr der Wissen begreifen, oder mehr noch als deren Aufstand, dessen kritische, aber letztlich auch emotionale und affektive Energie in uns jene „Ungeduld der Freiheit“ weckt, die es braucht, um ein Leben aus seiner Gefangenschaft zu befreien. Ich möchte mir gern Eribons Gedanken zu eigen machen und mir vorstellen, wie diese Vorgänger:innen ihr Schreiben auf einer Sorge um die anderen – das heißt auch um uns, ihre Nachkommen – gründeten. Darin besteht ihre „Großzügigkeit“, sie geben uns etwas von sich, teilen eine Erfahrung, sprechen uns Mut zu und lassen uns teilhaben an der Widerspenstigkeit, die ihr Denken, Schreiben und Handeln beseelt (vgl. Eribon 2017, S. 129). Deleuze hat, als Leser Foucaults, eine ebenso treffende wie schöne Beschreibung dieser Art Komplizenschaft gegeben: „Wenn die Leute Foucault folgen, wenn sie von ihm begeistert sind, so weil sie etwas mit ihm zu tun haben, in ihrer eigenen Arbeit, in ihrer eigenständigen Existenz. Das ist nicht nur eine Frage von intellektueller Erkenntnis oder Übereinstimmung, sondern von Intensität, Resonanz, musikalischem Einklang“ (Deleuze 1993, S. 125).

Sich zu diesen Vorgänger:innen zu bekennen, bedeutet aber auch, sie zu verteidigen. Man muss ihnen etwas von dem zurückgeben, was man von ihnen empfangen hat. Denn so oft scheint es heute nicht mehr wichtig, ob diese Werke noch zu uns sprechen und, falls sie es tun, was sie uns zu sagen haben. Wichtig ist allein, dass von ihnen gesprochen wird, nicht aber um einer Befreiung des Lebens willen, sondern im Dienste einer tatkräftigen Ordnung der Diskurse: dies bezeugt die gewaltige Anstrengung einer Maschinerie, „deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (Foucault 2014, S. 11). Auch Foucault hat sich gefragt, welche Angst sich hinter diesem Apparat der Kontrolle und Zurichtung verbergen mag. Vielleicht ist es die Angst vor der Implikation der Subjekte in das, was sie denken und schreiben, vielleicht ist es eine Angst, die eigenen Theorien von der Wirklichkeit widerlegt zu finden… das mag man diejenigen fragen, die von dieser Angst umgetrieben werden. Der Foucault, der sich mir eingeprägt hat, hätte in dieser Angst jedenfalls ein Zeichen dafür erkannt, wie viel es zu verändern gibt, wie zerbrechlich die Dinge sind. Darin bestand sein unerschütterlicher Optimismus, davon sollten wir sprechen (Foucault 1981, S. 223).

 


1 Man könnte darin eine „List der theoretischen Vernunft“ erkennen: Sofern sie nach der Beziehung des Wissens, um dessen Produktion es ihr geht, zur „Intervention“ und zum „Engagement“ in der Welt (und gegen sie in ihrer Falschheit) fragt, hat sie das Wissen bereits entpolitisiert: „Die klassische Formulierung der Frage nach dem Engagement wäre insofern Hinweis auf ein verkehrtes Vorgehen: Zuerst entpolitisiert man die Wahrheit, um danach in aller Harmlosigkeit nach ihrem Verhältnis zur Politik zu fragen“ (de Lagasnerie 2018, S. 66).

2 Ziel des Group d’information sur le prisons war es, Aufklärungsarbeit über die Straf- und Disziplinarsysteme zu betreiben, die in diese Systeme integrierten Institutionen zu kritisieren und die Unterdrückung anzuklagen, die sich in ihnen vollzieht – all dies mit dem Ziel, den Unterdrückten selbst die Bedingungen dafür zu schaffen, ihre Stimme gegen die Macht zu erheben, die sie unterwirft. Das Gefängnis war sicherlich die Hauptzielscheibe dieses Engagements; dessen Kritik weitete sich gleichwohl auf „analoge“ Institutionen der Disziplinierung und Überwachung aus: die Gerichte, die Krankenhäuser und Psychiatrien, die Schulen und Universitäten, das Militär… Vgl. hierzu das Kapitel „Die Lehre der Finsternis“ in Didier Eribons Foucault-Biographie (1999, S. 318–337).

3 So klagt die Bewegung des GIP in einer ihrer ersten Stellungnahmen jene oben genannten Institutionen an, „unerträglich“ zu sein. An der Wurzel dieser Unerträglichkeiten erkennt sie Formen der Unterdrückung durch eine politische Macht, gegen die ihr Engagement sich richtet und gegen die sie je spezifische Kämpfe zu mobilisieren beabsichtigt (vgl. Eribon 1999, S. 318 und 324 f.).

4 Es geht folglich darum, die eigene Existenzweise, das eigene Denken und Schreiben nicht durch die akademische Disziplin kodifizieren zu lassen, die einen homogenen institutionellen Raum des Austauschs bildet, der so wesentlich von einer Logik der entpolitisierten und entpolitisierenden Diskussion beherrscht ist (vgl. de Lagasnerie 2018, S. 94–98).

5 Das alles ist nicht neu. Dass man jedoch immer wieder darauf zurückkommen und daran erinnern muss, dieser Umstand belegt die entpolitisierende Wirkung des akademischen Kommentars, dem das Werk Foucaults heute anheimgegeben ist.

6 Namentlich die Familie, die Schule, die Universität, die Klinik usw. (vgl. Deleuze 1993, S. 254).

7 Immer wieder hat der späte Foucault zum Beispiel betont, dass die Kämpfe der Homosexuellen, die ein Recht auf neue Beziehungsformen fordern, auch der Beziehungsgestaltung Nicht-Homosexueller dienlich sein können, wollen sich diese der regierenden doxa widersetzen (vgl. Foucault 1982b, S. 372).

8 Wenn auch aus anderen Gründen, so hat er sich doch in ähnlicher Weise wie Foucault mit institutionellen Realitäten „über Kreuz“ gefunden: als sozialer „Abweichler“ in den heiligen Hallen des französischen Bildungswesens etwa, gefangen im tiefen Zwiespalt gleichzeitiger Auflehnung und Unterwerfung (Bourdieu 2002, S. 113–114). Der Vereinnahmung durch diese sozialen „Fliehkräfte“ sucht er zu begegnen, indem er sich zu einer radikalisierten Reflexivität verpflichtet, die ihn selbst, d.h. sein soziales wie intellektuelles Unbewusstes, mit einschließt. Sich von sich selber zu lösen, das bedeutet in diesem Sinne nicht nur den Versuch, sich den Machtsystemen, sondern auch dem Niederschlag der Macht in sich selbst abzugewinnen.

 

Literaturverzeichnis

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Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen. 1972-1990. Aus dem Französischen von Gustav Rößler. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Eribon, Didier (1999): Michel Foucault. Eine Biographie. Übers. v. Hans-Horst Henschen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Eribon, Didier (2017): Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Berlin: Suhrkamp.

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Foucault, Michel (1976): „Vorlesung vom 7. Januar 1976“. In: Ders. (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 13–36.

Foucault, Michel (1981): „Ist es also wichtig, zu denken?“. In: Ders. (2005): Schriften in vier Bänden, Band IV: 1980-1988. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitw. v. Jacques Lagrange. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 219–224.

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Foucault, Michel (1984a): „Was ist Aufklärung?“ In: Ders. (2007): Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitw. v. Jacques Lagrange. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 171–190.

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Foucault, Michel (1993): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Foucault, Michel (2014): Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt/M.: Fischer.

de Lagasnerie, Geoffroy (2018): Denken in einer schlechten Welt. Übers. v. Felix Kurz. Berlin: Matthes & Seitz.

 

Autor:in: Maximilian Thieme studiert Soziologie, Philosophie und Germanistik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sein Interesse gilt einem kritischen, der Welt zugewandten Denken unserer Gegenwart.