Nico Graack

Y – Z Atop Denk 2022, 2(9), 2.

Abstract: Der Diskurs um die Klimakatastrophe ist von zwei Seiten her in Beschlag genommen: Von Seiten des Geredes um einen ‚Generationenkonflikt‘ und von Seiten der Versuchung des Phantasmas von der ‚Harmonie mit Mutter Erde‘. In einer Antwort auf den in dieser Zeitschrift erschienenen Artikel Lutz Götzmanns „Mit tiefer Traurigkeit", der eine Antwort auf einen Versuch Nico Graacks darstellte, geht Nico Graack diesem Diskurs nach und versucht, eine Alternative zu ebenjenen zu finden – die philosophische Intention dieser Alternative verdichtet sich in der politischen Forderung nach einem Schuldenschnitt für die Länder des globalen Südens.

Keywords: Klimakatastrophe, Generationenkonflikt, Scham, Animismus, Schuldenschnitt

Artikel als Download: pdfEin, zwei, viele Igel

 

„Heatwave! Stay hydrated!“ – Die Anzeigetafel auf der französischen Autobahn rast an mir vorbei. Ich sitze auf dem Beifahrersitz eines alten Caddys, dessen Besitzerin sich entschieden hatte, mich ein Stück in Richtung Spanien mitzunehmen. Es ist 2022. Das letzte Mal, als ich diese LED-Tafeln sah, war das im Frühjahr 2020 und es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, mit diesem Virus müsse es doch etwas auf sich haben. Ich misstraute meinem Gefühl, wo es sich doch so offensichtlich aus der Assoziation mit der Bilderwelt der ersten Szenen eines schlechten Katastrophenfilms speiste. Ich sollte eines Besseren belehrt werden. Dieses Mal brauchte ich keinen Lernprozess: Die Klimakatastrophe (ich sage „Klima“ und meine ebenso „Umwelt“ und die ganzen etceteras) ist unmissverständlich auch hierzulande längst schon angekommen. Und beim Blick in die Feuer, tödlichen Wellen, die trockenen Flüsse und verzweifelten Plastik-Planen über Ackerfeldern kann ich mir – ehrlich gesagt – ein Lachen über Covid nicht verkneifen.

Wir kommen an der Raststätte bei Narbonne an – sie biegt in einigen Kilometern Richtung Toulouse ab, ich halte Kurs auf Barcelona. Ich bedanke mich herzlich und steige aus. Es sind 43°. An den Nasenlöchern spüre ich ein seltsames Kribbeln, das ich eigentlich nur aus der Sauna kenne. Ich flüchte schnell in die klimatisierte Tankstelle. Nach einiger Zeit drängt mich die geplante Weiterfahrt und die Tabaksucht wieder nach draußen – es ist gefühlt noch viel wärmer. Ich bekomme Angst – richtige Angst, Panik fast. Ich will wegrennen – aber wohin? Ein Gefühl der Heimatlosigkeit holt mich ein, dass ich an diesem Tag zum ersten Mal fühle: Es gibt keinen Rückzug, keine Garantie, keinen großen Anderen, der die weiter eskalierenden Katastrophen schon irgendwie regeln wird. Schon dieses Jahr gab es doch eine ganz konkrete Ahnung, wie diese Demaskierung des Mangels im Anderen aussehen kann: Zur Bekämpfung der Waldbrände im Süden und Westen Frankreichs kamen Löschflugzeuge aus Spanien und Griechenland, die französische Feuerwehr war bereits am Limit – und wenn nun in Spanien und Griechenland noch viel größere Brände ausbrechen? Oder an anderer Stelle Frankreichs? Wenn die Rettungskräfte nicht mehr hinterherkommen – sei es aus quantitativer Überforderung oder aus Treibstoffmangel – bringt einem die Klimaanlage nichts mehr.

Ich stehe einige Zeit später am Rio Palencia in Sagunto – so verkündet es das Schild an der Brücke zumindest noch. Es ist allerdings schon längst eine Asphaltstraße durch das einst riesige Flussbett gebaut worden und unter den großen Brücken sammeln sich Obdachlose und besoffene Jugendliche. Ich wandere über die trockenen Steine und schaue den Eidechsen hinterher, die vor meinen Schritten in die Büsche verschwinden. „Die Hitze als Hyperobjekt“, denke ich. So haben Sie, Herr Götzmann, ihre Antwort auf meine kurze Reflektion „Das Schweigen der Jugend“ eingeleitet, die in dieser Zeitschrift erschienen ist. Ist das nicht, was mir in Frankreich so brutal klar wurde? Eine zähflüssige Masse, die an mir klebt und die ich nicht loswerde. Auf meiner Reise setzt sich die fundamentale Operation des Horrors in Gang: Das Vertraute, die Heimat entpuppt sich als die Bedrohung. Der ausgelassene Sommer von einst wird zur fürchterlichen Tortur. Und die Gedanken an den Winter bieten keinen Ausweg.

Noch etwas später: Sevilla. 45° – die kälteste Zeit, gegen 4:30, hat frische 35° zu bieten. Einem alten Brauch folgend schlafe ich auf der Straße. Und das nicht gut. Erschöpft von der Hitze tagsüber finde ich keinen guten Platz, aber lege mich achselzuckend hin: Ein Parkplatz vor einer Kirche. Der Boden ist hart und es stinkt nach Pisse. Um spätestens 8:00 wird es zu heiß, um wirklich zu schlafen – dann beginnt das Warten auf die Nacht. Ich begebe mich in den Park nördlich des Alameda de Hercules. Die wenigen Schattenplätze sind voll von Obdachlosen, die versuchen, zu schlafen und der trotzig noch laufende Springbrunnen – „Gehen Sie weiter! Es gibt nichts zu sehen!“ – wird zum Freibad. Ich betrinke mich mit irgendwem, spiele Gitarre und versuche, die Zeit zu genießen. Aber diese unbarmherzige Heimatlosigkeit holt mich ein – „Ist sie die Quelle des Diskursabbruchs?“, denke ich und habe jenen erbarmungslosen Diskursabbruch vor Augen, den das Straßenleben so oft produziert, seit das erste Mal Punks die Innenstädte verschmierten. Wo die beste Aussicht ist, dass das Trinkwasser hierzulande vielleicht gerade noch so reicht, kann es ein „Ja, aber es ist kompliziert. Man muss auch sehen, dass …“ nicht geben.

 

Eine Rekapitulation, ein neuer Anlauf

Dieses „kann es nicht mehr geben“ habe ich in jener Reflektion den „Einbruch des Realen“ genannt, den die Klimakatastrophe im Kern ausmacht. Als eine unmittelbare Antwort darauf versuchte ich, diese etwas andere Art von Diskursabbruch zu verstehen, die jener Reflektion nach als der politische Kern der Klimabewegung zu verstehen ist. Dabei rief ich – explizit und implizit – Bruchstücke der Diskurse Lacans, Badious, Žižeks wach. In diesen Diskursen schien mir ein Ausweg aus folgender Sackgasse aufzuleuchten: Auf der einen Seite die Verwicklungen einer sich selbst als „pragmatisch“ imponierenden Haltung, die in ganz kleinen Schritten eine imaginierte „Mitte“ mitnehmen möchte und sich – wie Sie traurig schreiben – plötzlich mit der „Beschaffung von Gas“ beschäftigt. Heute muss man wohl im Angesicht von Gasumlage, Tankrabatt und Co. in allem Pathos jenen zu Recht verdächtig gewordenen Vokabulars der Marx-Grundkurse ergänzen: Und dann, schon nicht mehr so plötzlich, den Klassenkampf von oben Schulter an Schulter mit dem Öl- und Gaskartell führt, das für den wichtigsten Teil der drohenden Groß-Katastrophe verantwortlich ist. Auf der anderen Seite die Tragödie jener schönen Seelen, die immer noch „radikaler“ sein wollen, bis sie ganz auf jeden Schritt verzichten, um sich ihre Hände in Unschuld zu waschen. Einmal wird das Reale geleugnet, das andere Mal wird es mit dem Symbolischen kurzgeschlossen – wobei beides kollabiert.

Bezogen auf die politischen Aktionen der „Letzten Generation“ – von denen ich, das möchte ich richtigstellen, kein Teil bin; ich habe meine Hände zwar auch schon an diverse Objekte geklebt und Dinge besetzt, blockiert, angeschrien, und das auch schon zusammen mit Menschen von der „Letzten Generation“, aber an jenen Autobahnblockaden war/bin ich nicht beteiligt; man muss auch mal das Nörgeln von der Seitenlinie genießen, die „Notizen aus dem Lehnstuhl“ – bezogen auf diese Aktionen also heißt das: Es gibt eine Sackgasse zwischen „realistischen“ Forderungen und bedingungsloser Exteriorität, die sich im Widerspruch zwischen der banalen Forderung nach einem Anti-Wegwerf-Gesetz und der gewählten, spektakulären Aktionsform niederschlägt.

Den Ausweg versuchte ich in etwa so zu formulieren: In beiden Fällen wird dem Realen ausgewichen, die „Treue gegenüber dem Ereignis“ – wie Badiou es vielleicht sagen würde – gebrochen. Insofern das Reale für Lacan in der analytischen Erfahrung die Konfrontation mit dem Schweigen des Analytikers ist, ist es in der politischen Erfahrung ebenso ein Schweigen: Einmal das Schweigen der Waldbrände, der Fluten und der Hitze gegenüber jeder „Beschaffung von Gas“ und auf seiner Kehrseite das Schweigen der Blockade. Aber ist nicht der Witz Lacans, dass es ein bloßes Schweigen nicht gibt? Es ist nicht so, dass wir erst radikal schweigen (D) und sich dann ein Bruch auftut (/), sondern das Schweigen ist bereits der Bruch. Und als solches ist es unmöglich (D/ und /D) – im politischen ist dies eine unmögliche Forderung, auf der wir bedingungslos beharren, weil sich in ihr das universelle, unartikulierbare Grauen des Realen der Klimakatastrophe für einen Moment zusammenzieht.

Meiner Reflektion ging es also letztlich um eine strategische Kritik an der „Letzten Generation“: Ihr Diskursabbruch bleibt entweder ein bloßes Schweigen oder ein bloßer Spielzug im politischen Tagesgeschehen, statt sich in einer unmöglichen Forderung zu kristallisieren – und damit nehmen sie entgegen ihrer zentralen Symbolik die Klimakatastrophe gerade nicht ernst. Ihre Resonanz war nun eine ganz andere und das freut mich sehr. Ihre Resonanz war zunächst etwas ganz Banales: ein Affekt. Ein unnütz-nötiger Affekt. Eine „tiefe Traurigkeit“, sagen Sie. Eine tiefe Traurigkeit, von der aus Sie die ersten Fluchtlinien einer ökologischen Vision mit Guattari entwerfen. Ist diese Traurigkeit das Gegenstück zu der Heimatlosigkeit, die den Diskursabbruch lostritt?

 

Die verflixte Scham

Vielleicht ist sie es – wenn ich auch schon bei dem ersten Zusammenhang zwischen Heimatlosigkeit und Diskursabbruch etwas skeptisch bin. Aber, so denke ich, sie ist es erst in einer reflexiven Wendung. Lassen Sie mich anfangen bei etwas, das einen doch skeptisch machen muss: Die Scham, die ich in Ihrer Traurigkeit zu hören meine. Die Scham worüber? Sie schreiben: „Wir: meine Generation hat das im Großen und Ganzen alles kaputt gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit Nachsicht rechnen können. Es ist heiss, so unangenehm, dass ich lieber aufstehe und weitergehe. […] das Gefühl, dass eine ganze Generation versagt hat, rund um den Erdball, jedenfalls in den Industrieländern, und dass man am Ende geht und das alles, die ganze Misere, anderen überlässt. Scham, Trauer, Ohnmacht, Schuld.“ – Die Scham darüber also, sich als Teil einer Generation verantwortlich dafür zu fühlen, „diese Welt in einem denkbar schlecht bestellten Zustand [zu] verlassen“.

Meine Skepsis ist die, die Žižek als den „alten Hegelschen Verdacht, dass jede Selbstverleugnung heimlich ihr Gegenteil behauptet“ (Žižek 2005, S. 155) bezeichnet. Das ist selbstredend keine Anklage, ich schwinge nicht die Unaufrichtigkeits-Keule – ich möchte nur die Skepsis ausformulieren, die sie selbst ansprechen, wenn Sie von der „der Endlichkeit geschuldete[n] Larmoyanz derer, die älter werden“ sprechen. Ist diese Scham nicht vielmehr das Produkt einer Diskursverhärtung – des Diskurses des „Generationenkonflikts“, der die Schuld im Phantasma „der“ älteren Generation sucht und viel zu oft von der jungen Klimabewegung beschworen wird? In diesem Phantasma gefallen sich beide Seiten: Die Jungen haben endlich eine moralische Grundlage für ihre Rebellion gegen die Alten und die Alten haben endlich den Freifahrtschein, sich in Selbstgeißelung zu ergehen. Die Scham schleicht sich in die affektive Dimension, um ihre Fluchtlinien zurückzubiegen auf das affektive Subjekt selbst. Ich denke, die wirklichen Fluchtlinien jenes Bruchs führen weder entlang der Meditation der Schuld noch entlang des blinden „Jetzt aber anpacken!“, das das Gegenstück auf Seiten der jungen Generation in dieser imaginären Komplementarität bildet – sie führen schlicht in eine gesellschaftliche Notbremse.

 

Animismus und Harmonie?

Von hier beginnen sich die Fluchtlinien vor allem in eine konkrete Richtung zu biegen, die man wohl als die vertrackteste Versuchung der ökologischen Frage verstehen kann und die gegen Ende Ihrer Antwort hereinbricht: Der Animismus, die Harmonie mit Mutter Erde, die aufgrund unserer prometheischen Hybris aus den Fugen geraten sei und die es (wieder-)herzustellen gelte – „Nature is out of joint!“. Sie sagen, „dass auch solche Gedanken, dass die Umwelt, die wir zerstören, beseelt sei und über eine subjektive Essenz verfügen könnte, und nicht nur der Mensch zu diesen Vektoren zählt, die aus der Atmosphäre des Affekts, der Traurigkeit, der Schuld herausführen.“ – Und da fällt das Kind in den Brunnen! Ist nicht, gerade weil solche Gedanken aus der Traurigkeit, der Schuld herausführen, die Schuld von Beginn an eine trügerische Dimension gewesen?

Es ist dieselbe schillernde Demut, die hier und bei der Selbstgeißelung als Mittäter am Werk ist und die Koordinaten schief aufspannen lässt. Um es auf den Punkt zu bringen: Im gestörten Mensch-Natur-Verhältnis geht es gar nicht in erster Linie um unser Verhältnis zur Natur, sondern um unser Verhältnis zueinander – das Individuum bezieht sich nie direkt auf die Natur, die Geschichte des Mensch-Natur-Verhältnisses ist keine Robinsonade. Oder anders: das Reale der Klimakatastrophe ist das Reale der sozialen Antagonismen.

Ein simples Beispiel: Geht es in der Verwüstung Südamerikas durch die Rohstoffförderung (Öl, Gas, Metalle, …) darum, dass „dem“ Menschen seine Demut vor der Natur verloren gegangen ist? Nein! Es ist eine ganz spezifische soziale Konstellation, die diese Verwüstung überhaupt erst ermöglicht und (auf beiden Seiten des Antagonismus!) rational erscheinen lassen kann: Die Profiteure, getrieben von einem ja nicht einfach erfundenen Wachstumszwang, sind von den unmittelbaren Auswirkungen ausgeschlossenen, die Leidtragenden von jeglicher Entscheidungsmacht – Unternehmen aus dem globalen Norden, die sich mit Privatarmeen, Bestechungen, Putschen und einen raffinierten Finanzsystem aus Schulden und Abhängigkeiten halten können, und Menschen im globalen Süden, die nicht unsere Selbstgeißelung brauchen, sondern unsere Solidarität: „Es handelt sich nicht darum, ob der Gegner einer einsichtigen, wunderbar selbstreflektierten Faust gegenübersteht, es handelt sich darum, ihn zu treffen“, ließe sich ein grobes Wort des jungen Marx abwandeln.

 

Schaffen wir ein, zwei, viele Igel …

Diese Dimension des Realen spricht auch durch ihre Antwort, wenn sie davon sprechen, wie „zumindest in den Industrieländern“ die Menschen versagt haben. Lassen Sie uns die Hände in diesen Spalt kriegen und ihn weiter aufreißen: Wer in den Industrieländern hat denn versagt? Auch „der globale Norden“, wie ich mich den wohl doch zu irgend etwas zu gebrauchenden Klischees folgend lieber ausdrücke, ist doch in sich zerrissen. Dort wendet sich die Traurigkeit vielleicht auf sich selbst: In der Traurigkeit darüber, dass es sich nicht fügt. Es gibt keine komplementäre Antwort auf dieses Schweigen – keine unschuldige, bedauernswerte Jugend, die gegenüber den schuldigen, tapfer ihre Last tragenden Alten nun ihre Gerechtigkeit fordern; keine heroische Verzweiflung auf der einen, traurige Selbstgeißelung auf der anderen Seite. Nein, es gibt nicht eine und eine andere Seite – nur das eine, in sich gespaltene Feld der Heimatlosigkeit, der Nacktheit auf einem offen gelegten Planeten, die nicht zu einer Solidarität der Spezies führt, sondern in der es echte Feinde gibt.

Lassen Sie mich von hier aus einen anderen Versuch wagen, einen anderen Igel auf seinen Weg schicken: Ein solcher Igel ist „von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich vollendet“, wie Schlegel von Guattari angerufen wird. Was heißt das? Dass wir nicht geradewegs auf ein „existentielles Territorium“ zulaufen entlang dieser Fluchtlinie – natürlich, wir werden die Grenze zu einem solchen hoffentlich übertreten – oder wir werden sterben. Aber die erste Sammlung aus dem Bruch heraus? Das ist eine Singuläre, ein Signifikant, der aus der tabula rasa des Bruches heraus alles – und das heißt nicht erst seit Hegel: nichts – in sich versammelt, ein völlig auf sich zusammengezogenes, stacheliges Wesen – ein Igel eben. Man könnte auch sagen: Eine Forderung, die in ihrem Kern völlig naiv und deshalb unmöglich ist – das ist das Mal ihrer Geburt aus dem Bruch. Eine solche Forderung zu finden ist analog einer erfolgreichen Deutung, der „Formung eines neuen Gedankens“ – das heißt auch, sie enthält immer ein gewisses „Drauf los“, sie muss versucht, gewagt werden.

In dem Artikel von damals habe ich mich daran versucht: Ein Klima-Lieferkettengesetz. Heute möchte ich einen anderen Signifikanten vorschlagen, der die Fluchtlinie zu einem neuen Diskurs bevölkert: Schuldenerlass. Er ist aufgenommen aus Diskursen der Menschen an den Frontlinien der Klimakatastrophe und geistert seit kurzem erstmals durch die Klimabewegung – so auch mittlerweile durch den der Letzten Generation.1 Hier ist nicht der Platz, um die konkreten sozio-ökonomischen Hintergründe dieser Forderung zu erörtern (vgl. Graack 2022) – Hier ist nur der Platz, um eine pathetische, aber ernsthafte Hoffnung zu artikulieren: Dass damit ein Signifikant gefunden ist, der den Diskurs neu ordnet (wenn wir das wollen, brauchen wir auch das und das und …). Dass sich hier die Traurigkeit einmal um sich selbst wendet und von ihrem Anstoß zu ihrer Ursache kommt, die in demselben Feld wurzelt wie das Schweigen – und sich dort auf das Schweigen hin öffnet: Die unmögliche Forderung wird ihre Parole und der Hebel an diesem Archimedespunkt wird mit gemeinsamer Kraft die Welt aus ihren Angeln heben. Nein. Natürlich nicht. Da kann ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Aber wenn sie auf die richtige Weise daran scheitert, wird die Welt danach aus den Angeln gehoben worden sein. Vielleicht wird es gar eine Welt sein, in der die Heimatlosigkeit eine gute wird.

 


1 Bis vor kurzem – vielleicht bin ich gerade auch nur zu blöd, es wiederzufinden – standen drei Forderungen auf ihrer Homepage (https://letztegeneration.de/), von denen eine war: Schuld gegenüber dem globalen Süden bezahlen, Schulden erlassen. Überhaupt hat sich der Diskurs gewandelt: Es geht nun – und das kann man nur begrüßen – um den „fossilen Wahnsinn“, nicht mehr um ein Anti-Wegwerf-Gesetz.

 

Literaturverzeichnis

Goetzmann, Lutz (2022): „Mit tiefer Traurigkeit. Eine Antwort auf Nico Graacks Beitrag ‚Das Schweigen der Jugend‘“. In: Y – Zeitschrift für atopisches Denken 2 (März 2022).

Graack, Nico (2022): „Das Schweigen der Jugend. Autobahnblockaden und das Unmögliche – Notizen aus dem Lehnstuhl“. In: Y – Zeitschrift für atopisches Denken 2 (März 2022).

Graack, Nico (2022): „Das Knie vom Nacken des Globalen Südens nehmen“. In: analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis 684 (August 2022). https://www.akweb.de/bewegung/das-knie-vom-nacken-des-globalen-suedens-nehmen/

Žižek, Slavoj (2005): „Neighbors and Other Monsters: A Plea for Ethical Violence“. In: Slavoj Žižek, Eric L. Santner u. Kenneth Reinhard: The Neighbor – Three Inquiries in Political Theology. Chicago: The University of Chicago Press.

 

Autor:in: Nico Graack studiert Philosophie und Informatik in Kiel und Prag. Er arbeitet als freier Autor und Journalist.